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Chasm City

Chasm City

Titel: Chasm City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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potenziell unsterblich ist?«
    »Sicher, aber das heißt nicht, dass wir nicht hin und wieder an den Tod gemahnt werden müssten. Was hat man davon, einen alten Feind zu schlagen, wenn man nie in Erinnerungen daran schwelgen darf, wie es vorher war? Der Sieg wird sinnlos, wenn man nicht mehr weiß, was man besiegt hat.«
    »Aber man könnte dabei ums Leben kommen.«
    Sie sah von ihrer Speisekarte auf. »Ein Grund mehr, auf das Timing zu achten.«
    Voronoff war fast am Ziel angelangt. Ich konnte ihn kaum noch erkennen.
    »Jetzt nimmt die Spannung zu«, sagte Fischetti. »Er wird allmählich langsamer. Seht ihr, wie exakt er den Zeitpunkt berechnet hat?«
    Die Leine war fast bis zum Ende abgerollt und bremste Voronoffs Sturz nun langsam ab. Doch er enttäuschte die Erwartungen seiner Zuschauer nicht. Er verschwand drei oder vier Sekunden lang im Nebel, dann zog sich das Seil zusammen und holte ihn wieder nach oben.
    »Wie im Bilderbuch«, sagte Sybilline.
    Wieder wurde geklatscht, aber diesmal anders als zuvor mit wilder Begeisterung. Die Leute feierten Voronoffs Sprung, indem sie mit dem Besteck auf den Tisch klopften. »Wisst ihr was?«, sagte Waverly. »Nachdem er die Nebelsprünge gemeistert hat, werden sie ihn langweilen, und er wird sich in noch wahnwitzigere Gefahren stürzen. Denkt an meine Worte.«
    »Da ist der letzte«, sagte Sybilline. Der dritte Springer hatte sich vom Balkon gestürzt. »Sein Timing sieht nicht schlecht aus – besser jedenfalls als bei der Frau. Aber er hätte wenigstens so viel Anstand haben können zu warten, bis Voronoff wieder oben ist.«
    »Wie kommt er eigentlich herauf?«, fragte ich.
    »Er wird hochgezogen. In seinem Geschirr ist eine Motorwinde eingebaut.«
    Der letzte Springer schwebte in die Tiefe. Für mein unerfahrenes Auge sah der Sprung mindestens ebenso gut aus wie der von Voronoff – die Thermiken schienen den Mann nicht zu den Wänden hin zu tragen, und er hielt sich mit der federnden Eleganz eines Ballett-Tänzers. Die Menge hatte sich beruhigt und wartete gespannt.
    »Ein Amateur ist er jedenfalls nicht«, sagte Fischetti.
    »Er ahmt nur Voronoff nach«, sagte Sybilline. »Ich habe genau gesehen, wie dieser Luftwirbel die Gleitschirme erfasst hat.«
    »Das kannst du ihm nicht vorwerfen. Es gibt keinen Bonus für Originalität.«
    Der Springer, ein leuchtend grüner Punkt, stürzte weiter dem Nebel entgegen. »Moment mal«, sagte Waverly und zeigte auf die Seilrolle auf dem Balkon. »Müsste ihm jetzt nicht allmählich die Leine ausgehen?«
    »Voronoff war hier am Ende«, nickte Sybilline.
    »Der Idiot hat sie zu lang bemessen«, sagte Fischetti. Er trank einen Schluck Wein und spähte mit neuem Interesse in die Tiefe. »Jetzt ist auch er am Ende, aber das ist viel zu spät.«
    Er hatte Recht. Als der grüne Punkt die Nebelschicht erreichte, war er kaum langsamer geworden. Der Bildschirm zeigte ihn ein letztes Mal von der Seite, dann tauchte er in die weiße Watte ein. Nur die straff gespannte Leine war noch zu sehen. Die Zeit verging – die drei bis vier Sekunden, die Voronoff gebraucht hatte, um wieder aufzutauchen, dann zehn… und schließlich zwanzig. Nach dreißig Sekunden machte sich leise Unruhe unter den Zuschauern breit. Sie hatten diese Szene offensichtlich schon öfter erlebt und ahnten, was nun kam.
    Fast eine Minute verging, bevor der Mann wieder zum Vorschein kam.
    Man hatte mir bereits erklärt, was mit Gleitschirmfliegern passierte, die zu tief stürzten, aber so schlimm hatte ich es mir nicht vorgestellt. Der Springer war sehr weit in den Nebel eingetaucht. Sein dünner Anzug hatte dem Druck, den Temperaturen dort unten nicht standhalten können. Der Mann war innerhalb von wenigen Sekunden bei lebendigem Leibe gekocht worden. Die Kamera verharrte auf seinem Leichnam, zeigte das grausige Bild liebevoll in allen Einzelheiten. Angewidert wandte ich den Blick ab. Ich hatte als Soldat so einiges an Horrorszenen erlebt, aber ich hatte dabei nie an einem Tisch gesessen und ein opulentes Mahl verdaut.
    Sybilline zuckte die Achseln. »Er hätte eben ein kürzeres Seil nehmen sollen.«
 
    Hinterher gingen wir quer durch den Stängel zurück zum Landedeck, wo immer noch Sybillines Gondel wartete.
    »Und wo sollen wir Sie nun hinbringen, Tanner?«, fragte Sybilline.
    Ich musste zugeben, dass ich mich in dieser Gesellschaft nicht gerade wohl fühlte. Die Sache hatte schlecht angefangen, und obwohl ich für den Ausflug zum Stängel dankbar war, hatten die Leute

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