Chasm City
auch Reivich stand in Geschäftsbeziehungen mit der Besatzung des Lichtschiffs. Vielleicht hatte er sie sogar dafür bezahlt, dass sie Cahuella falsche Positionsdaten lieferten, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Aber es gab auch noch eine andere Möglichkeit, und die hatte mein Unterbewusstsein entdeckt, während ich schlief.
Vielleicht gab es zwei Reivich-Trupps. Der eine stand dreißig Kilometer nördlich von hier, war auf dem Weg nach Süden und hatte die schweren Waffen, die Orcagna überwachte. Ich war bisher davon ausgegangen, dass es der Einzige war. Aber angenommen, es gab eine zweite Gruppe, die vorneweg marschierte? Vielleicht hatte sie leichtere Waffen, die von den Ultras nicht angepeilt werden konnten? Der Überraschungseffekt könnte die geringere Feuerkraft mehr als aufwiegen.
Und genau das hatte er getan.
Sie hatten keine moderneren und keine tödlicheren Waffen als wir, aber sie arbeiteten mit höchster Präzision. Zuerst schossen sie die vor dem Camp postierten Wachen nieder, bevor die überhaupt Zeit hatten, ihre eigenen Gewehre in Anschlag zu bringen. Doch von diesem Teil des Überfalls bekam ich so gut wie nichts mit. Ich war noch gar nicht richtig wach und hielt die Lichtblitze und die knatternden Energieentladungen zunächst noch für die letzten Ausläufer des Gewitters, das weiter die Halbinsel hinaufzog. Erst als ich die Schreie hörte, begriff ich allmählich, was draußen vorging.
Doch da war es natürlich viel zu spät, um etwas dagegen zu unternehmen.
Einundzwanzig
Als ich endlich erwachte, lag ich lange im goldenen Morgenlicht, das in Zebras Zimmer strömte, und ließ im Geiste die Träume immer wieder an mir vorüberziehen. Endlich konnte ich mich davon lösen und anfangen, mich um mein verletztes Bein zu kümmern.
Der Heiler hatte über Nacht ein wahres Wunder vollbracht. Die ärztliche Kunst war hier doch sehr viel weiter fortgeschritten als auf Sky’s Edge. Von der Wunde war nur noch ein weißlicher Stern aus neuem Fleisch zu sehen, und die verbliebenen Schäden waren hauptsächlich psychologischer Natur – mein Gehirn wollte nicht wahrhaben, dass mein Bein wieder durchaus imstande war, die ihm zugedachte Aufgabe zu erfüllen. Ich erhob mich von der Couch, machte versuchsweise ein paar unbeholfene Schritte und schleppte mich schließlich über mehrere Stufen des terrassenförmigen Fußbodens zum nächsten Fenster. Die Möbel schlurften bereitwillig beiseite und machten mir Platz.
Bei Tageslicht – oder was man in Chasm City darunter verstand – erschien mir das große Loch im Herzen der Stadt noch näher, noch schwindelerregender zu sein. Ich konnte mir unschwer vorstellen, wie es die ersten Forscher angelockt hatte, die – aus Roboterschößen geboren oder nach gefahrvoller Reise auf den ersten Raumschiffen im Gefolge der Roboter – nach Yellowstone gekommen waren. Die heißen Gase, die aus dem Abgrund quollen, waren bei guten atmosphärischen Bedingungen vom All aus als trüber Fleck zu erkennen.
Ob sie in Raupenschleppern über Land gefahren oder durch Wolkenschichten vom Himmel herab geschwebt waren, der erste Blick auf den Abgrund musste einfach atemberaubend gewesen sein. Vor Hunderttausenden von Jahren hatte etwas eine riesige Wunde in den Planeten gerissen, die noch immer nicht verheilt war. Gerüchten zufolge sollten sich einige der Forscher, nur mit dünnen Druckanzügen geschützt, in die Tiefen hinab gewagt und dort Schätze gefunden haben, mit denen sich ganze Imperien gründen ließen. Wenn das stimmte, hatten sie ihr Geheimnis gut bewahrt. Dennoch hatten sie Nachahmer gefunden, andere Abenteurer und Glücksritter, und um deren Behausungen herum waren die ersten Ansätze jener Siedlung entstanden, aus der sich Chasm City entwickeln sollte.
Es gab keine allgemein anerkannte Erklärung dafür, wie das Loch entstanden war. Die Caldera – die Chasm City vor Winden, verheerenden Überschwemmungen und dem Vorrücken der Methan-Ammoniak-Gletscher schützte – ließ allerdings eine größere Katastrophe vermuten, die auf der geologischen Zeitskala nicht allzu weit zurückliegen konnte. Andernfalls wäre der Krater längst verwittert oder seismischen Erschütterungen zum Opfer gefallen. Wahrscheinlich war Yellowstone dem benachbarten Gasriesen zu nahe gekommen, dabei war Energie in den Planetenkern gejagt worden, die nun unter anderem durch den Abgrund allmählich wieder ins All entwich. Unbekannt war freilich, wodurch dieses Ventil überhaupt entstanden war. Es
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