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Chasm City

Chasm City

Titel: Chasm City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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sich zu Hütern aller biologischen und genetischen Erkenntnisse, und sie mehrten das Wissen durch den Handel mit den Ultras, die ihnen hin und wieder Brosamen fremder genetischer Information anboten, außerirdische Genome oder Behandlungsverfahren, die in anderen Systemen entwickelt worden waren. Trotz alledem waren die Meistermischer auf Yellowstone nur selten ins Zentrum der Macht gelangt. Schließlich war das System dem Sylveste-Clan hörig, jener uralten, einflussreichen Familie, die eine Transzendenz der körperlichen Existenz durch cybernetische Verfahren zur Bewusstseinserweiterung propagierte.
    Dennoch brauchten die Meistermischer natürlich nicht am Hungertuch zu nagen, denn nicht jeder hatte sich bedingungslos der Sylveste-Doktrin verschrieben, außerdem war nach den krassen Fehlschlägen bei den Achtzig die Begeisterung für die Transmigration stark abgekühlt. Aber sie wirkten in der Stille: korrigierten genetische Anomalien bei Neugeborenen und bügelten Schwachstellen in vermeintlich reinen Blutlinien aus. Je fachmännischer diese Arbeit ausgeführt wurde, desto weniger trat sie in Erscheinung, es war wie bei einem perfekten Mord, bei dem nicht einmal der Verdacht auf ein Verbrechen aufkam und hinterher niemand mehr wusste, wer eigentlich das Opfer war. Die Meistermischer gingen nach den gleichen Grundsätzen vor wie Restauratoren, die beschädigte Kunstwerke wiederherstellten. Sie bemühten sich, möglichst wenig von ihren eigenen Vorstellungen einfließen zu lassen. Dabei verfügten sie über ein Gestaltungspotenzial, das wahrhaft erschreckend war. Aber es wurde streng kontrolliert, denn die Gesellschaft konnte nicht zulassen, dass von zwei Seiten gleichzeitig massiver Transformationsdruck ausgeübt wurde, und das sahen die Meistermischer in gewissen Grenzen auch ein. Hätten sie die geballte Kraft ihres Könnens freigesetzt, sie hätten Yellowstones Kultur in Stücke gerissen.
    Doch dann war die Seuche gekommen, und sie hatte die Gesellschaft in Stücke gerissen. Doch wie bei einem Asteroiden, der mit einer zu schwachen Ladung gesprengt wurde, hatten die einzelnen Teile zu wenig Fluchtgeschwindigkeit mitbekommen, um sich weit genug zu verteilen. Yellowstones Gesellschaft war mit lautem Knall ins Dasein zurückgekehrt – bruchstückhaft, chaotisch, jeden Augenblick vom Zerfall bedroht, aber doch wieder eine Gesellschaft. Und eine Gesellschaft, in der die Ideologie der Cybernetik zumindest vorübergehend gleichbedeutend war mit Ketzerei.
    Das so entstandene Machtvakuum hatten die Meistermischer zu füllen verstanden.
    »Sie unterhalten überall im Baldachin ihre Behandlungszentren«, erklärte Chanterelle. »Dort kann man seinen Stammbaum erstellen und die Verzweigungen des eigenen Clans verfolgen lassen oder in den Broschüren für neue Gen-Designs blättern.« Sie deutete auf ihre Augen. »Alles, was bei der Geburt fehlte oder nicht vererbt werden sollte. Auch Transplantate sind möglich – aber ziemlich selten, wenn man sich nicht gerade etwas so Ausgefallenes wie Pegasus-Schwingen in den Kopf gesetzt hat. Meistens sind die Modifikationen genetischer Natur. Die Meistermischer bilden die DNA so um, dass die Veränderungen auf natürliche Weise erfolgen – oder jedenfalls so natürlich, dass der Unterschied zu vernachlässigen ist.«
    »Wie geht das vor sich?«
    »Ganz einfach. Wenn Sie sich in den Finger schneiden – schließt sich die Wunde dann mit Fell oder mit Schuppen? Natürlich nicht – denn das Wissen um die Architektur des Körpers ist in den Tiefen der DNA vergraben. Die Meistermischer tun nichts anderes, als dieses Wissen so selektiv zu verändern, dass der Körper die üblichen Schutzfunktionen gegen Verletzungen und Abnutzung weiterhin ausüben kann, aber an gewissen Stellen den falschen Bauplan verwendet. Mit der Zeit wächst also etwas, das im Phänotyp eigentlich nie angelegt war.« Chanterelle hielt inne. »Wie gesagt, Behandlungszentren, wo sie ihr Handwerk ausüben, gibt es im gesamten Baldachin. Wenn Sie wissen wollen, was mit Ihren Augen los ist, sollten wir vielleicht ein solches Zentrum aufsuchen.«
    »Was hat das mit meinen Augen zu tun?«
    »Sie glauben doch, dass etwas damit nicht in Ordnung ist.«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich und gab mir alle Mühe, nicht allzu mürrisch zu klingen. »Aber vielleicht haben Sie Recht. Vielleicht können mir die Meistermischer etwas sagen. Sind sie vertrauenswürdig?«
    »So viel oder so wenig wie jeder andere hier.«
    »Großartig.

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