Chasm City
ich könnte es schaffen. Und es würde Jahre dauern. Vielleicht ein volles Jahrzehnt. Um die Sache geheim zu halten, müsste man die Programmierung im Schutz der sechsmonatlichen Funktionsprüfungen durchführen. Das ist die einzige Gelegenheit, zumindest einen Blick auf die Funktionen in der Tiefenstruktur zu werfen oder gar darauf zuzugreifen.« Sky sah, dass Norquinco in Gedanken bereits weit voraus war. »Und ich bin nicht einmal in dem Trupp, der die Revision durchführt.«
»Warum nicht? An deiner Intelligenz kann es doch wohl nicht liegen?«
»Sie sagen, ich wäre nicht ›teamfähig‹. Aber wenn alle so wären wie ich, würden die Prüfungen nicht halb so lange dauern wie jetzt.«
»Ich kann mir vorstellen, dass die anderen mit deiner Arbeitsmoral ihre Schwierigkeiten haben«, sagte Sky. »Das ist das Los aller Genies, Norquinco. Sie werden nur selten gewürdigt.«
Norquinco nickte. Er war so töricht, sich einzubilden, ihre Beziehung hätte endlich die unscharfe Grenze zwischen einer Zweckgemeinschaft und wahrer Freundschaft überschritten. »Der Prophet gilt nichts im eigenen Lande, ich weiß. Du hast Recht, Sky.«
»Ich weiß«, sagte Sky. »Ich habe immer Recht.«
Er klappte seine Computertafel auf und blätterte die Daten durch, bis er die Graphik für die Schläferbelegung fand. Sie war in Neonfarben gehalten und sah aus wie eine exotische Kaktusart: eine dornige Pflanze mit vielen Ästen. Die Lebenden waren als rote Symbole eingezeichnet; die toten als schwarze. Sky hatte schon seit Jahren Lebende und Tote voneinander getrennt, nun waren etliche Kälteschlafmodule nur noch mit toten Momios belegt. Das war nicht so einfach gewesen, denn die Lebenden mussten noch in gefrorenem Zustand transportiert werden. Man koppelte die Kojen ab, hielt sie mit Reserveenergie kühl und beförderte sie mit der Bahn von einem Teil der Säule zum anderen. Manchmal hatte man hinterher noch einen toten Momio mehr.
All das war Teil eines großen Plans. Und mit Norquincos Hilfe würde Sky bereit sein, wenn die Zeit gekommen war.
Aber er hatte noch ein weiteres Anliegen, über das er mit Norquinco sprechen wollte.
»Du erwähntest zwei Dinge, Sky.«
»Ganz recht. Erinnerst du dich an früher, Norquinco? Als wir noch ganz jung waren, bevor mein Vater starb? Du hattest dich mit Gomez über das ›sechste Schiff‹ unterhalten, wie wir es nannten, aber du hattest einen anderen Namen dafür.«
Norquinco sah ihn misstrauisch an, als wittere er eine Falle. »Du meinst die… hm… die Caleuche?«
Sky nickte. »Genau die. Hilf mir mal auf die Sprünge – was steckte gleich noch hinter dem Namen?«
Norquinco schmückte den Mythos sehr viel weiter aus, als Sky es in Erinnerung hatte, fast als hätte er auf eigene Faust Nachforschungen angestellt.
Doch als er fertig war – er hatte auch von einem Delphin berichtet, der das Gespensterschiff begleiten sollte –, sagte er: »In Wirklichkeit gibt es das alles nicht, Sky. Es war nur eine von den Geschichten, die wir uns gern erzählten.«
»Nein. Früher dachte ich das auch, aber diese Geschichte beruht auf Tatsachen.« Sky beobachtete Norquinco aufmerksam, um zu sehen, wie er auf diese Eröffnung reagierte. »Das hat mir mein Vater gesagt. Die Sicherheitswache wusste schon immer von der Existenz des sechsten Schiffes. Auch sonst ist noch so einiges darüber bekannt. Es befindet sich etwa eine halbe Lichtsekunde hinter uns, ist ebenso groß wie die Santiago und hat auch die gleiche Form. Es ist ein Schiff der Flottille, Norquinco.«
»Warum hast du so lange gewartet, um mir das zu erzählen, Sky?«
»Weil ich bisher mit der Information nichts anfangen konnte. Aber jetzt ist das anders. Ich möchte eine kleine Expedition ausrüsten, Norquinco – um zur Caleuche zu fliegen. Aber das muss streng geheim bleiben. Das Schiff hat einen ungeheuren strategischen Wert. Es muss Vorräte an Bord haben. Bauteile. Maschinen. Medikamente. Alles Dinge, auf die wir seit Jahrzehnten verzichten müssen. Aber vor allem hat es Antimaterie und wahrscheinlich ein funktionsfähiges Antriebssystem. Deshalb möchte ich Gomez mitnehmen. Aber dich brauche ich auch. Ich rechne nicht damit, dass an Bord noch jemand lebt, aber wir müssen ins Innere gelangen; die Systeme Warmlaufen lassen und die Sicherungen ausschalten.«
Norquinco sah ihn staunend an. »Das kann ich machen, Sky.«
»Gut. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.«
Sie würden sich auf den Weg zu dem Gespensterschiff
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