Chasm City
Triebwerke ab. Mit gedämpfter Kabinenbeleuchtung und unter Wahrung strikter Funkstille entfernten sie sich vom Mutterschiff.
Das Schiff glitt vorbei wie eine graue Felswand. Sky hatte zwar dafür gesorgt, dass auf der Santiago niemand seine Abwesenheit bemerkte – bei dem krankhaften Misstrauen, das die Atmosphäre an Bord bestimmte, würde ohnehin kaum jemand unbequeme Fragen stellen –, doch vor der übrigen Flottille ließ sich der Start eines Kleinschiffs nie ganz geheim halten.
Sky wusste allerdings aus Erfahrung, dass die Radaranlagen eher nach Raketen zwischen den Schiffen suchen würden als nach einem Objekt, das langsam zurückfiel. Und seit unter den Schiffen ein Wettstreit um die Verringerung der Masse entbrannt war, stieß man andauernd entbehrliche Ausrüstungsteile ins All. Schrott warf man gewöhnlich nach vorne ab, damit die Flottille beim Abbremsen nicht damit kollidierte, aber das war unwesentlich.
»Wir driften vierundzwanzig Stunden lang ohne Antrieb dahin«, sagte Sky. »Dann sind wir neuntausend Kilometer hinter dem letzten Schiff der Flottille und können für das letzte kurze Stück bis zur Caleuche Triebwerke und Radar einschalten. Selbst wenn die anderen die Triebwerksflamme bemerken sollten, sind wir immer noch früher dort als jedes Shuttle, das sie uns hinterher schicken können.«
»Und wenn sie das tatsächlich tun?«, fragte Gomez. »Dann bleibt uns womöglich nur eine Gnadenfrist von ein paar Stunden. Bestenfalls ein Tag.«
»Wir müssen die Zeit eben gut nützen. Ein paar Stunden reichen aus, um an Bord zu gehen und festzustellen, was dem Schiff zugestoßen ist. Ein paar Stunden mehr, und wir können auch nach Vorräten suchen, die noch zu verwenden sind – medizinische Geräte, Ersatzteile für Kälteschlafkojen, was immer ihr wollt. Das Shuttle kann so viel aufnehmen, dass sich die Mühe lohnt. Finden wir mehr, als wir unterbringen können, dann halten wir das Schiff so lange besetzt, bis die Santiago eine größere Shuttle-Flotte schicken kann.«
»Du redest, als würden wir wegen der Caleuche einen Krieg anfangen.«
»Vielleicht wäre sie es wert, Gomez«, sagte Sky Haussmann.
»Vielleicht wurde sie schon vor Jahren von einem der anderen Schiffe geplündert. Das hast du doch sicher bedacht?«
»Gewiss. Und auch das wäre in meinen Augen ein hinreichender Grund für einen Krieg.«
Norquinco, der seit dem Start kaum ein Wort gesprochen hatte, betrachtete eine verwirrend komplexe Schemazeichnung von einem der Flottillenschiffe. Solche Zeichnungen konnte er stundenlang mit glasigen Augen anstarren, ohne Müdigkeit oder Hunger zu spüren, bis er irgendein Problem zu seiner Zufriedenheit gelöst hatte. Sky beneidete ihn um diese absolute Konzentration, obwohl er selbst davor zurückscheute, sich jemals so völlig in eine Aufgabe zu verrennen. Norquinco hatte für ihn einen sehr spezifischen Wert: er war ein Instrument, das bei exakt definierten Problemen mit vorhersehbaren Ergebnissen eingesetzt werden konnte. Der Mann brauchte nur eine ausgefallene und möglichst komplizierte Aufgabe, dann war er in seinem Element. Die Entwicklung eines plausiblen Modells der internen Datennetze der Caleuche könnte genau das Richtige für ihn sein. Zwar würde es immer nur auf intelligente Vermutungen hinauslaufen, aber es gab niemanden, den Sky solche Vermutungen lieber – hätte anstellen lassen.
Er rekapitulierte das Wenige, was über das Gespensterschiff bekannt war. Fest stand, dass die Caleuche einst offiziell als Teil der Flottille zusammen mit den anderen Schiffen gebaut und vom Merkur-Orbit aus gestartet worden sein musste. Beides hatte man sicher nicht geheim halten können, auch wenn sie damals wahrscheinlich einen prosaischeren Namen getragen hatte als den des legendären Gespensterschiffes. Anschließend hatte sie wohl wie die anderen fünf Schiffe auf Reisegeschwindigkeit beschleunigt und war für eine Weile – vielleicht viele Jahre – mit ihnen geflogen.
Doch dann war in den ersten Jahrzehnten der Reise zum Schwan etwas geschehen. Das Heimatsystem wurde von politischen und sozialen Unruhen erschüttert, und die Flottille sah sich zunehmend isoliert. Die Entfernung wuchs von Lichtmonaten auf Lichtjahre, und mit der Zeit wurde es schwierig, mit den Daheimgebliebenen effektiv zu kommunizieren. Zwar trafen weiterhin technische Verbesserungsvorschläge ein, und die Flottille schickte weiterhin ihre Berichte nach Hause, aber die Abstände zwischen den Botschaften wurden
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