Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chasm City

Chasm City

Titel: Chasm City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
Vom Netzwerk:
Verbrecher, nur weil er zufällig in der Rolle eines flüchtigen Mörders auftrat?«
    »Mit einer ungeladenen Pistole? Das hätte ich für mein Leben gern gesehen, Mirabel.«
    »Ein Punkt für Sie?«
    »Aber«, sagte Zebra, »dann hast du gemerkt, dass es dir zu gut gefiel.«
    Voronoff sah sie an und fragte mit kaum verhohlener Gehässigkeit: »Was gefiel mir zu gut?«
    »Gejagt zu werden. Es hat den Schmerz gelindert, nicht wahr?«
    »Was verstehst du denn schon von diesem Schmerz?«
    »Nein«, sagte ich. »Seien Sie ehrlich, Voronoff. Sie hat Recht, nicht wahr? Zum ersten Mal seit Jahren haben Sie wieder gespürt, was Leben heißt. Nur deshalb sind Sie sinnlose Risiken eingegangen – um sich dieses Kribbeln zu bewahren. Aber Sie bekamen nie genug. Selbst die Sprünge in den Abgrund konnten Sie nur in Maßen amüsieren.«
    Er sah uns mit neuem Eifer an. »Wurden Sie jemals gejagt? Haben Sie eine Vorstellung, wie das ist?«
    »Ich hatte das Vergnügen«, sagte ich. »Und es ist noch gar nicht so lange her.«
    »Ich rede nicht von unseren dummen Spielchen«, fauchte Voronoff verächtlich. »Da wird nur Abschaum von Abschaum gejagt – Anwesende natürlich ausgeschlossen. Als Sie das Opfer waren, Mirabel, waren die Jäger so sehr im Vorteil, dass sie Ihnen auch gleich die Augen verbinden und eine Kugel durch den Kopf hätten jagen können, anstatt Sie erst noch laufen zu lassen.«
    »Sie werden sich wundern, aber damals hätte ich Ihnen fast zugestimmt.«
    »Man hätte die Sache auch anders aufziehen können. Mit fairen Chancen. Hätte man Ihnen mehr Vorsprung gelassen, bevor man die Verfolgung aufnahm, dann wäre Ihr Tod nicht von vornherein beschlossene Sache gewesen. Man hätte Ihnen auch die Möglichkeit geben können, ein Versteck aufzusuchen. Das hätte vieles geändert, nicht wahr?«
    »Manches«, nickte ich. »Eine Kleinigkeit wäre allerdings auch dann gleich geblieben: Ich hatte mich nicht freiwillig gemeldet.«
    »Vielleicht hätten Sie das sogar getan. Wenn es sich ausgezahlt hätte. Gegen eine entsprechende Belohnung. Wenn Sie eine Aussicht gesehen hätten, mit dem Leben davonzukommen.«
    »Was war Ihre Belohnung, Voronoff?«
    »Der Schmerz«, sagte er. »Die Erlösung davon. Zumindest für ein paar Tage.«
    Wahrscheinlich setzte ich zu einer Antwort an. Jedenfalls scheint es mir im Rückblick so. Vielleicht war es auch Zebra oder der wortkarge Gorilla mit dem Keulengewehr. Doch mit Sicherheit weiß ich nur noch, was wenige Sekunden später passierte. Die Augenblicke davor sind spurlos aus meinem Gedächtnis gelöscht. Als aus der anderen Gondel das Feuer auf uns eröffnet wurde, spürten wir wohl zuerst einen heißen, grellen Blitz. Dann jagte die Schockwelle der Strahlenwaffe mit einem ohrenbetäubenden Schlag durch die aufgerissene Gondel, und schließlich flog das ganze Triebwerk als heiße Wolke aus Metall, Plastik und anderen Kunststoffen in die Luft. Danach kam wohl der Absturz. Der Angriff hatte die Dacharme abgerissen oder so verbogen, dass sie sich nicht mehr an den Kabeln halten konnten.
    Nach etwa einer Sekunde wurden wir heftig abgebremst, und das brachte mich wieder einigermaßen zu mir. In meiner ersten Erinnerung – bevor die Schmerzen einsetzten – stand die Gondel auf dem Kopf, der Tischhügel hing wie ein Pickel von der Decke, und in dem Boden mit dem Neon-Dekor klaffte ein gezacktes Loch, durch das ich viel zu deutlich und viel zu weit entfernt den unteren Teil der Stadt – das stinkende Gassengewirr des Mulch – sehen konnte.
    Der Leibwächter war verschwunden, nur sein Gewehr rutschte klirrend auf dem neuen Fußboden hin und her. Die Gondel fand schwankend zu einem labilen neuen Gleichgewicht. Auch die Hand des Gorillas war noch da, sie war um das Gewehr gekrallt. Ein Schuss hatte sie glatt vom Arm getrennt. Die Knochenstümpfe am Handgelenk erinnerten mich an den Moment nach Reivichs Überfall, als ich in unserem Zelt saß und einen Fuß verloren hatte; immer wieder war ich mit der Hand über den Stumpf gefahren und hatte mir die blutigen Finger vor das Gesicht gehalten, weil ich einfach nicht wahrhaben wollte, dass der Feind mir einen Teil meines Körpers geraubt hatte wie ein Stück Land.
    Nur – und das wusste ich jetzt – war das alles gar nicht mir passiert.
    Zebra und ich waren in eine Ecke der Kabine geschleudert worden und lagen uns in den Armen wie ein Liebespaar. Von Voronoff – ganz oder in Teilen – war nichts zu sehen. Der Schmerz brandete in ersten Wellen über

Weitere Kostenlose Bücher