Chasm City
Leider klang das etwa so überzeugend, als wenn sich ein betrunkener Landstreicher mit seiner Potenz brüstete. Durch die Seitenfenster konnte ich beobachten, wie der Escher-Turm, ein schwebender Kristallberg, hinter uns zurückfiel, und ich sah auch – und das war nicht unwichtig – wie die zweite Gondel, die nicht Zebra gehörte, ihre Arme auf volle Länge ausfuhr und sich anschickte, uns in diskretem Abstand zu folgen.
»Was jetzt?«, fragte ich, ohne den Gorilla zu beachten. »Ihr Spiel ist aus, Voronoff. Sie werden sich ein neues suchen müssen.«
»Hier geht es nicht um Spiele, Sie Schwachkopf. Hier geht es um Schmerz.« Er beugte sich so weit vor, dass er mit dem Oberkörper fast auf dem Tisch lag. Er hatte Reivichs Aussehen, aber seine Körpersprache und seine Sprechweise passten nicht dazu. Ich hörte nicht den leisesten Sky’s Edge-Akzent, und Voronoffs geballte Dynamik wäre dem aristokratischen Reivich fremd gewesen. »Es geht um Schmerz«, wiederholte er. »Denn nur durch Schmerz kann man Sie auf Abstand halten. Verstehen Sie?«
»Eigentlich nicht, aber reden Sie nur weiter.«
»Sie halten Langweile normalerweise nicht für eine Art von Schmerz. Das liegt daran, dass sie Ihnen nur in relativ kleinen Mengen verabreicht wird. Sie wissen nicht, wie sie wirklich ist. Langeweile, wie Sie sie kennen, und Langeweile, wie ich sie kenne, sind etwa so verschieden, als fasste man mit einer Hand in den Schnee und mit der anderen in einen Behälter mit flüssigem Stickstoff.«
»Langeweile ist kein Stimulus, Voronoff.«
»Ich bin mir da nicht so sicher«, sagte er. »Immerhin entsteht das Gefühl, das wir Langeweile nennen, in einem bestimmten Bereich des menschlichen Gehirns. Das können Sie nicht bestreiten. Und dieser Teil muss logischerweise durch einen externen Stimulus aktiviert werden, nicht anders als das Geschmacks- oder das Hörzentrum.« Er hob abwehrend die Hand. »Ich weiß schon, was Sie jetzt sagen wollen. Das ist nämlich eine besondere Fähigkeit von mir – Dinge im Voraus zu wissen. Geradezu symptomatisch für meinen Zustand, könnte man sagen. Ich bin ein neurales Netz, das so gut auf seinen Input eingestimmt ist, dass es sich seit Jahren nicht mehr weiterentwickelt hat. Aber kehren wir zum Thema zurück. Sie wollten natürlich einwenden, Langeweile sei eher ein Mangel an Reizen als das Vorhandensein eines bestimmten Stimulus. Aber ich sage Ihnen, das ist kein Unterschied; das Glas ist gleichzeitig halb leer und halb voll. Sie hören die Stille zwischen den Tönen, ich höre die Musik. Sie sehen ein schwarzes Muster auf weißem Grund; ich sehe ein weißes Muster auf Schwarz. Mehr noch, ich sehe beides.« Wieder grinste er wie ein Geisteskranker, der seit Jahren in einem Verlies angekettet war und nun tiefgründige Gespräche mit seinem eigenen Schatten führte. »Ich sehe alles. Das ist unvermeidlich, wenn jemand meine – wie soll ich sagen? – meine Erfahrungstiefe erreicht hat.«
»Sie sind also vollkommen verrückt?«
»Ich war verrückt«, erwiderte Voronoff und nickte. Er wirkte nicht gekränkt. »Ich habe den Wahnsinn durchschritten und bin auf der anderen Seite wieder herausgekommen. Jetzt würde er mich ebenso langweilen wie die Normalität.«
Ich wusste natürlich, dass er nicht verrückt war – jedenfalls war er kein tobender Irrer, denn sonst hätte Reivich ihn nicht einsetzen können, um mich zu ködern. Voronoff musste noch einen Rest Realitätsbewusstsein haben. Ich war mit Sicherheit niemals in einer ähnlichen geistigen Verfassung gewesen – und ich hatte durchaus unter Langeweile gelitten –, aber ich musste davon ausgehen, dass er im Vollbesitz seiner Fähigkeiten war, alles andere wäre tödlich gewesen.
»Sie könnten ein Ende machen«, riet ich ihm. »Selbstmord zu begehen kann doch in einer Stadt wie dieser so schwierig nicht sein.«
»Manche Menschen wählen diesen Weg«, sagte Zebra. »Menschen wie Voronoff. Sie nennen es natürlich nicht Selbstmord. Aber sie entwickeln plötzlich eine bedenkliche Begeisterung für Aktivitäten mit sehr geringer Überlebenswahrscheinlichkeit wie Abspränge über dem Gasriesen oder Besuche bei den Schleierwebern.«
»Warum nicht, Voronoff?« Doch dann musste ich lächeln. »Nein, warten Sie. Sie standen schon kurz davor, nicht wahr? Ihr Auftritt als Reivich. Sie hofften, ich würde Sie töten, richtig? Ein halbwegs würdevoller Ausweg aus dem Schmerz. Der weise alte Unsterbliche, niedergeschossen von einem auswärtigen
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