Chasm City
Cahuellas Vergangenheit und seine Erinnerungen in meinen Körper. Und auch damit war die Talsohle noch nicht erreicht, denn auch Cahuella war nur eine Schale, die noch andere, noch tiefere Erinnerungen verbarg.
Ich wollte nicht darüber nachdenken, dennoch sah ich, wohin die Entwicklung zielte.
Ich hatte Tanners Erinnerungen gestohlen; hatte mir – vorübergehend – vorgemacht, ich wäre tatsächlich er. Doch dann – ich fing gerade an, die Tarnung abzuwerfen – schlug das Indoktrinationsvirus zu, katalysierte die Freilegung noch tieferer Erinnerungsschichten und gab den Blick frei auf meine geheime Vergangenheit, die Jahrhunderte zurückreichte.
Zurück zu Sky Haussmann.
Als die volle Erkenntnis über mich hereinbrach und ich begriff, was ich war, zersprang etwas in mir. Meine Knie gaben nach, ich sank, von Brechreiz geschüttelt, auf den regennassen Boden. Das Telefon war mir aus der Hand gefallen; jetzt lag es neben mir, mit dem Bildschirm nach oben, sodass ich Tanners Gesicht, sein spöttisches Lächeln immer noch sehen konnte.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte er.
Ich sprach in das Telefon.
»Amelia«, flüsterte ich kaum hörbar, dann wiederholte ich den Namen etwas lauter. »Sie ist bei Ihnen, nicht wahr? Sie haben sie getäuscht.«
»Sagen wir, sie hat sich als sehr nützlich erwiesen.«
»Sie weiß vermutlich nicht, was Sie vorhaben?«
Tanner fand die Frage sichtlich komisch. »Sie ist eine sehr gutgläubige Seele. Aber was Sie anging, hatte sie ihre Zweifel. Nachdem Sie die Bettler auf eigene Verantwortung verlassen hatten, fielen ihr offenbar gewisse Unregelmäßigkeiten in Ihrem Gencode auf – die sie natürlich für Spuren verschiedener Erbkrankheiten hielt. Sie versuchte, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen, aber Sie waren inzwischen nur noch schwer zu erreichen.« Tanner lächelte wieder. »Inzwischen war ich reanimiert worden und wieder im Vollbesitz meiner Fähigkeiten. Ich erinnerte mich, wer ich war, und warum ich überhaupt von Sky’s Edge geflohen war. Dass ich hinter Ihnen her war, weil Sie mir meine Identität und meine Erinnerungen gestohlen hatten. Amelia erzählte ich von alledem natürlich nichts. Ihr sagte ich, wir wären Brüder, und Sie wären ein klein wenig durcheinander. Eine kleine, harmlose Täuschung, die Sie doch sicher verstehen werden.«
Er hatte Recht. Schließlich hatte auch ich Amelia belogen, weil ich hoffte, sie könnte mich auf Reivichs Spur führen.
»Lassen Sie sie gehen«, sagte ich. »Sie bedeutet Ihnen doch nichts.«
»O nein, ganz im Gegenteil. Sie ist ein weiterer Grund für Sie, zu mir zu kommen. Ein weiterer Grund für ein Treffen, Cahuella.«
Sein Gesicht erstarrte, dann riss die Verbindung ab. Wir standen allein im Regen. Ich gab Zebra das Telefon zurück.
»Was ist mit der zweiten Verletzung?«, fragte sie, während wir mit der Gondel quer über die Stadt rasten. »Du sagtest, Tanner hätte einen Fuß verloren, und jetzt wäre davon nichts mehr zu sehen. Aber das war nicht das Einzige, wonach der Meistermischer suchen sollte.« Sie schüttelte den Kopf. »Weißt du, ich möchte dich gern weiterhin Tanner nennen. Es ist nicht so einfach – mit jemandem zu reden, der seinen eigenen Namen verleugnet.«
»Mir macht es die Unterhaltung auch nicht gerade leichter«, sagte ich.
»Also, dann erzähle uns von der zweiten Verletzung.«
Ich holte tief Luft. Das war der Teil, der mir am schwersten fiel. »Tanner hat einmal jemanden erschossen. Seinen Arbeitgeber. Einen Mann namens Cahuella.«
»Wie reizend von ihm«, sagte Chanterelle.
»Nein; es war nicht so. Tanner wollte ihm eigentlich einen Gefallen tun, als er ihn erschoss. Es war eine Geiselnahme. Tanner musste durch den Mann hindurch schießen, um…« – meine Stimme klang heiser – »einen Killer zu töten, der Cahuellas Frau sein Messer an die Kehle hielt. Der Schuss sollte Cahuella nicht töten: Tanner wusste, dass er ihn nicht ernsthaft verletzen würde, wenn er den richtigen Winkel wählte.«
»Und?«
»Tanner hat geschossen.«
»Und es hat geklappt?«, fragte Zebra.
Im Geiste sah ich Gitta zu Boden sinken, nicht durch das Messer, sondern durch Tanners Fehlschuss getötet. »Der Mann überlebte«, sagte ich Sekunden später. »Tanner kannte sich aus mit der menschlichen Anatomie. Er war schließlich Berufskiller gewesen. Dabei lernt man, welche Organe man treffen muss, um ein Opfer zu töten. Aber man kann dieses Wissen auch einsetzen, um einen Strahlenschuss auf möglichst
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