Cheffe versenken (German Edition)
Auch Edith ging nicht an ihr Telefon. Ich fühlte mich ohnmächtig und war so aufgewühlt, dass ich nicht schlafen konnte.
Um halb fünf zwitscherten die Vögel, und ich starrte unter meine Zimmerdecke.
»Triiiiixiiiiii! Komm schneeeeell!«
Ich sprang aus dem Bett. Rahels Stimme ließ für einen kurzen Moment die Vögel verstummen.
Mit großen Sätzen stolperte ich in Rahels Zimmer. Sie saß vor ihrem Computer und schrie: »Da ist sie!«
Ich kapierte nichts – außer, dass Rahel offensichtlich die Nacht am Computer verbracht hatte. Sie trug dieselbe Montur wie am Vorabend. Ihre Haut war blass, vier Flaschen Cola, die leer neben dem Rechner standen, mussten sie wach gehalten haben.
»Da!«, schrie sie noch lauter und zeigte auf ihren Bildschirm.
Ich beugte mich vor und sah nur ein verschwommenes Foto.
»Ist das Edith oder ist das Edith?«, rief Rahel total übermütig.
»Wo?«, fragte ich. Ich brauchte zwar keine Brille, aber auf dem Bild konnte ich in meiner Aufregung nichts erkennen.
»Die Frau mit dem Turban. Du hast doch gesagt, Edith trägt einen Turban – wegen ihrer Verletzung.«
Jetzt erkannte ich sie auch. Edith!
»Woher hast du diese Aufnahme?«, fragte ich Rahel.
»Aus dem Internet, du Doofchen«, gab Rahel triumphierend zurück. »So etwas nennt man Webcam-Foto. Das Bild wurde gestern Abend geschossen – um 18 Uhr 30.«
»Weißt du, wo das ist?«
Auf dem Foto war Edith auf einer schmalen Straße zu erkennen. Kein Zweifel. Leicht gebeugt schlich sie mit ihrem bunten Turban durch eine Fußgängerzone.
»Dreimal darfst du raten. Wuppertal, Wolfsburg oder Wangerooge?«
Ich tippte richtig. Altklug erklärte Rahel mir, dass die meisten Städte eigene Webcams haben. Sie hatte alle Internetseiten der drei Orte durchforstet. Als sie nach vielen Stunden mit ihrer Suche nach Verbindungen zum Bellersen Verlag nicht weiterkam, fing sie an, die Webcam-Bildarchive zu durchstöbern. Und zack – mitten auf Wangerooge entdeckte sie Edith.
»Rahel! Du bist –. Also, du bist wirklich die – BESTE!«, juchzte ich und knutschte sie auf die Wange.
Genervt zog sie sich aus meiner Umarmung und witzelte: »Lass gut sein. Was kriege ich dafür?«
»Das überlege ich mir später«, antwortete ich, während meine Gedanken schon fieberhaft losrasten.
Wenn Edith nach Wangerooge gefahren war, um sich umzubringen, dann lief mir die Zeit davon. Hoffentlich lebte sie noch.
Ich konnte doch nicht den Bürgermeister anrufen und sie wie ein Kind, das in einem Kaufhaus verlorengegangen war, auf der Insel ausrufen lassen. Schon gar nicht um kurz vor fünf in der Frühe.
»Fährzeiten suchen, hinfahren, Edith finden«, schlug Rahel vor.
»Du bist witzig. Wie komme ich wohl am schnellsten dorthin? Mit meinem Fahrrad?«
Bei diesem Stichwort durchschoss ein stechender Schmerz mein Herz. Ich vermisste Alan.
Eine Sekunde später war ich mir sicher, dass Edith die Verfasserin des Abschiedsbriefs war. Die kitschige, dramatische Formulierung, eine wehmütige Reise zum Todesort ihres heiligen Chefs – das alles passte zusammen. Die Arbeit im Verlag war ihr schließlich das Wichtigste. Was hatte sie nicht alles erlebt in den letzten Wochen? Kein Wunder, dass Edith am Ende ihrer Kräfte war.
Jedenfalls war Alan nicht der Verfasser des Briefs. So viel Verzweiflung hatte ich ihm auch nicht zugetraut. Vielleicht hatte er sich tatsächlich für ein paar Tage abgesetzt, um zu überlegen, was er tun sollte.
Ich atmete tief ein und wusste: Jetzt musste ich Edith retten – ihr Leben war in Gefahr.
»Um 7 Uhr 30 und 13 Uhr 45 fahren Schiffe ab Harlesiel.«
Rahel hatte blitzschnell die Überfahrtzeiten herausgefunden.
»Mehr Fähren gibt es nicht?«, fragte ich entsetzt.
»Fähren vielleicht schon, aber keine Abfahrtszeiten.« Teenagerhumor.
»Schmeiß Florence aus ihren geblümten Kissen und frag sie, ob sie mit dir hinfährt.«
Rahel grinste und gefiel sich offensichtlich in der Rolle der Oberkommandeurin.
»Was guckst du so? Ich habe schließlich weder Führerschein noch Auto und darf gleich todmüde zur Schule fahren – sonst würde ich dich gern hinkutschieren.«
Rahel hatte recht. Ihre Hartnäckigkeit war bewundernswert. Wenn ich wieder zurück war, würde ich ihr etwas ganz Besonderes spendieren – egal, was es kostete.
Eine Stunde später tuckerten Florence und ich im Jaguar über die Autobahn. Mit 90 Stundenkilometern war das Geschwindigkeitsmaximum des Weltkulturerbefahrzeugs erreicht.
»Ach, Trixi«,
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