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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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und ich konnte sie hören oder meinte doch, trotz Wassergebrüll helle, harte Hammerschläge zu hören, ebenso kleine Explosionen, die sich wie knatterndes Feuerwerk ausnahmen, wie Schüsse oder trocknes Kiefernholz, über das die Flammen leckten. Immer mal wieder flog ihre Tür auf, krachte rücksichtslos an die Wand, und als Nächstes erschien das weizenhaarige Kind, lachend, hippedie-hop. Ich gestehe, es zerriss mir das Herz. Kurz darauf sah ich den Jungen dann durch ein Fenster, wie er über zusammengesackte Garbenhaufen hüpfte, ein glückseliger Hase, der einer Falle entkommen war, sah ihn seltsam über Erntestoppeln flitzen, unterwegs zu Orten, die ich nicht aussprechen konnte. Er war gewiss ein cleverer kleiner Zappelphilipp, der ölige, in Taschentücher oder Lumpen gewickelte Geheimnisse heimbrachte.
    Während meiner Deutschstunden konnte ich an nichts anderes denken als daran, welche Fortschritte sie wohl mit ihren geheimnisvollen Instrumenten machten. Ob sie sich beeilten? Konnte ich sie zu größerem Tempo antreiben? Das Puzzle ihrer Geräusche machte mich schier verrückt. War das Schießpulver? Bedeutete das Erfolg? Und das Scheitern? Der Herstellungsprozess belastete all meine Gefühle in einem wahrlich erschöpfenden Maße.
    Fragte ich behutsam nach, tat Sumper, als verstünde er nicht, oder er setzte seine höchst beweglichen Brauen ein, um komisches Erstaunen zu mimen. Das Schlimmste war, dass er mich fürchten ließ, er hielte sich nicht an meine Anweisungen.
    Warum, fragte er dann etwa, sollte es einen gebildeten Engländer nach einem billigen, kitschigen Zirkustrick verlangen?
    »Herr Sumper«, erwiderte ich jedes Mal, wenn ich seinen Köder schluckte, »Sie haben meinen Auftrag sowie mein Geld angenommen und wissen, dass es in entscheidendem Maße auf die Zeit ankommt.«
    »Aber was brauchen Sie eine Ente …«, und so weiter, und so weiter.
    Dann: »Ich bin extra deswegen nach Deutschland gereist.«
    »Aber wer will schon Vaucanson kopieren? Vaucanson war ein Betrüger. Der Verdauungsapparat der Ente konnte gar nicht funktionieren, da der Anus nicht mit dem Gedärm verbunden war. Verstehen Sie denn nicht, Herr Brandling? Sie lieben Ihr Kind, und jetzt geben Sie Geld aus, um es zu täuschen.«
    Eines späten Vormittags wurde ich zu einer Tasse Kaffee eingeladen, eine höchst ungewöhnliche Ehre, folglich also keine Situation, in der ich erwartet hätte, dass man sich über mich lustig machte.
    »Bitte, Herr Brandling, sagen Sie, täuschen alle englischen Väter ihre Kinder?«
    Der beleidigende Kerl zwinkerte Carl zu, der die Finger ineinander verschränkte und sich auf dem Stuhl wand, da er sich vor Vergnügen kaum zu halten wusste, womit er, der arme, gehorsame Junge, sich an mir verriet. Was seine Mutter anging, so fand sie zweifellos, dass ich all meine Sorgen selbst zu verantworten hatte. Möge ihnen vergeben werden.
    Gewöhnlich bin ich recht friedfertig – ja, man hat mir dies sogar als einen Makel angekreidet –, doch bin ich auch ein starker Mensch mit großer Leidensfähigkeit. Ich nehme Beleidigungen hin, erdulde Unerträgliches, nur konnte ich Percy unter solcher Indolenz nicht leiden lassen. Was nützte eine Ente, wenn er nicht länger lebte, um sie sehen zu können? Wäre ein Vater für ihn nicht besser, als ein aufziehbares Spielzeug? In meinem Eifer vergaß ich meine Lage. Ich schob den Milchkaffee beiseite, ging auf mein Zimmer, packte, was in den Wandersack hineinpasste, und ›lieh‹ mir einen der kräftigen Eschenstöcke, die in einem Kasten nahe der Tür standen. Ich sagte nicht Lebwohl, hatte aber Abschied im Sinn. Ich musste zurück nach Hause.
    Kurz darauf wurde ich von der Wirtin des Gasthofes begrüßt. Anfänglich hatte ich sie für eine eher komische Figur gehalten; inzwischen wusste ich, dass dies keineswegs zutraf. Wie auch immer, es war nur noch für eine Nacht, dann ging es zurück nach England. Die alte Kupplerin hielt mich für reich, und ich habe ihr das nicht ausgeredet. Sie gab mir ihr bestes Zimmer und sagte, sie würde meine Kleider am Küchenfeuer trocknen.
    Die Wut machte mich nicht gerade vernünftig. Ich dachte, ich will morgen nach Hause, dachte aber nicht daran, dass ich weder Mittel noch Heim besaß, zu denen ich zurückkehren konnte. Zum Teufel mit alldem, sagte ich mir. Ich werde tun, wozu ich Lust habe.
    Ich ließ den Spargel zurückgehen und bestellte Rindfleischeintopf mit Klößen. Das erste Glas gelben Weins kam umhüllt von perlweißem

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