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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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trocken wird von deinen Tränen.‹ Dies erschreckte die Mutter, und sie hörte auf zu weinen. In der nächsten Nacht erschien das Kind aufs Neue. Es hielt eine kleine Laterne in der Hand und sagte: ›Sieh nur, mein Hemd ist fast trocken, bald kann ich in meinem Grabe ruhen.‹ Da gab sich die Mutter in des Herrgotts Hand und erduldete ihren Kummer von nun an friedvoll und geduldig; das Kind aber kehrte nicht wieder zurück, sondern schlief still in seinem kleinen Bett unter der Erde.«
    Er war grausam und gemein. Ich verpasste ihm einen Hieb direkt unter die große Stirn, gleich überm Auge. Er taumelte. Ich trat ihm zwischen die Beine. Mit einem mädchenhaften Schrei sackte er vornüber, und ich fürchte, von da an verlor ich jede Angst um mein Leben, denn ich trat und schlug zu, bis der große Fleischberg keinen Mucks mehr machte. Wie massig er doch aussah, zusammengerollt auf der Tannennadelmatte, ein erlegtes Stück Wild.
    Ich war ein Narr. Er war meine einzige Hoffnung gewesen. Ich kehrte in die Gaststätte zurück und legte mich schlafen.

2
    Ich befand mich in selten schlechter Laune, verstört wie ein nervöser Gaul, den man besser erschießt als füttert. Derlei hatte mir noch nie geholfen, noch kein einziges Mal. Und in diesem Falle konnte ich von Glück reden, dass ich Sumper nicht ermordet hatte.
    Am nächsten Morgen zog ich mich an, nestelte mit geschwollenen Händen an den Hemdknöpfen und ahnte die schrecklichen Folgen meines Siegs voraus.
    Dann kam Sumper, und beschämt sah ich die wundgefärbten Wangen, die beinahe bloßliegenden Knochen, den Schaden, den ich dem einzigen Menschen zugefügt hatte, der meinen Sohn retten konnte.
    Als ich den Gasthof verließ, folgte er mir wortlos in den dunklen Tann, wo ich meinen Tod roch. Ich meinte bereits die Art Lichtung zu sehen, auf der dieserlei Dinge gewöhnlich zu Ende gebracht werden. Low Hall oder Furtwangen, alles eins. Percy, ich habe dich im Stich gelassen.
    Wir kamen zu offenem Ackerland. Am Himmel ließ sich die Sonne nun im Westen sehen. Der weiße Ackersenf, der in Furtwangen offenbar eine ebensolche Pest war wie sein gelber Bruder in Low Hall, verlieh der morbiden Szene einen fälschlich fröhlich Anstrich.
    »Wohin gehen wir?«, fragte ich. »Bringen wir die Sache hinter uns.«
    Seine Lippe war aufgeplatzt, und es war meine Schuld, dass ihm der Schnauzbart schief im Gesicht stand. Als er mir die Hand auf den Oberarm legte, schien er anzüglich zu grinsen, doch merkte ich dieser zärtlichen Geste die Spur eines Bedauerns an, das begleitete, was er sich nun zu tun genötigt sah.
    »Sehen Sie«, sagte er und deutete auf einen Mann, der mit zwei Frauen aus einer kleinen Kirche trat. Er ging, um mit ihnen zu reden, und mir fielen seine breiten Schultern auf, der furchteinflößende Nacken. Ich fühlte keine Wut mehr und folglich auch nicht das geringste Verlangen, ihn von hinten anzugreifen. Jetzt sollte ich davonlaufen, dachte ich, wie feige dies auch immer wirken mag. Dann aber sah ich, wie der junge Mann die beiden Frauen küsste, und wie die armen Kreaturen zu weinen begannen. Bei meiner Treu, ihr Schmerz war geradezu unerträglich. Die Frauen konnten sich kaum auf den Beinen halten. Sie gingen in Richtung Wald, taumelten davon und jammerten dabei auf entsetzlichste Weise.
    Der Mann richtete seine Augen auf mich, und was ich sah, war dunkel und trocken. Dann warf er sich mit einem langen Blick voller Hass sein Bündel auf die Schulter und ging den Hügel hinab.
    »Ein Uhrmacher«, erklärte Herr Sumper bei seiner Rückkehr. Der junge Mann schwang das Bündel vom Rücken und schleuderte es wütend gegen einen Baum. »Armer Kerl«, sagte er, und die Gefühlsaufwallung ließ sein verletztes Gesicht erst recht hässlich aussehen. »Ist in die Hände eines Packers geraten.«
    Genug. Ich hatte schon immer gewusst, dass es auf der Welt nur so wimmelt vor Millionen und Abermillionen Herzen, mehr als Mücken und Fliegen, und jedes hatte wie dieser Mann dort seinen eigenen Kummer. Wo aber sollte meine Bestrafung nun stattfinden?
    »Was ist ein Packer?«, fragte ich, sorgte mich aber mehr um seine mächtigen Arme.
    »Packer«, sagte er, »kaufen die Uhren von den armen Familien, die sie herstellen. Und die Macher müssen sich mit dem Wenigen abfinden, was ihnen die Packer bieten.«
    Ich blieb stehen und hob die Fäuste. »Wohin gehen wir, Sie verfluchter Kerl?«
    »Ich? Verflucht?« Er grinste mich an und schlug meine Hände beiseite.
    Überall um mich

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