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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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Dreschmaschine gesehen. Und sie haben die Engländer nicht gekannt, die ich kennengelernt habe, nicht die Maschinen, die ich schaffen half. Sie, mein Herr, haben keine Ahnung, wie erniedrigend es ist, dass Sie mich bitten, ein solches Spielzeug herzustellen. Natürlich«, setzte er rasch hinzu, »wollten Sie mich nicht beleidigen, das verstehe ich durchaus.«
    »Alle Menschen«, sagte ich, »brauchen Geld zum Leben.«
    »Ich mache es nicht des Profits wegen«, sagte er, »sondern weil Sie Ihren Jungen lieben.«
    »Sie haben doch auch einen Sohn«, platzte es aus mir heraus, und ich kann mir nicht vorstellen, warum ich das gesagt habe. Wollte ich ihn aufhalten? Seine Worte löschen? Schließlich wusste ich genau, dass Carl nicht sein Sohn war.
    »Sind Sie blind?«, rief er. »Dieser Junge ist niemandes Sohn. Er ist, was diese Idioten da einen Engel nennen würden. Wüssten sie die Wahrheit, hätten sie ihn längst gekreuzigt. Natürlich musste ihn sein ignoranter Vater mitten in so einen Aufstand hineinschleppen. Ebenso gut hätte er eine Meißner Porzellanschale darbieten können; der Mann hatte keine Ahnung, welchen Schatz er besaß. Dass dieses Kind keinen bleibenden Schaden nahm oder sonstwie gebrochen wurde, gereicht dem Universum zum Segen. Bier«, brüllte er oder doch irgendwas, was dem entsprach. »Sie wollen keine Ente«, verkündete er dann.
    »Sie haben meine Pläne an sich genommen.«
    »Man hat mich angewiesen, etwas weitaus Besseres zu bauen.«
    »Ich bin derjenige, der Ihnen Anweisungen gibt.«
    Plötzlich gab er sich ganz sanft und einfühlsam, legte die große Hand auf meinen Oberarm und drückte zu. »Henry«, sagte er. »Wir brauchen einander.«
    Ich kannte Männer wie ihn, raue, harte, rüde Burschen, die zu dieser überraschenden, verführerischen Freundlichkeit fähig waren. Als er sagte, dass wir einander brauchten, hielt ich das für die Wahrheit. Die Augen in ihren beinernen Schalen wurden seidenweich, als er sich zu mir vorbeugte, mich weiterhin mit seiner großen Hand hielt und leise sagte: »Was machen Sie nur aus Ihrem Leben? Wofür setzen Sie es ein? Welch höherem Zweck dient es?«
    Er wollte mich beherrschen, mich benutzen, das zumindest hatte er vor, nur war ich es leider, der ihn ausnutzen musste. »Mein lieber Sumper«, sagte ich, »Sie müssen mir die Ente bauen, denn wenn nicht, mache ich Sie sehr unglücklich.«
    Abrupt stand er auf. Was jetzt, fragte ich mich.
    Er wollte den Gasthof verlassen. Ich begleitete ihn.
    »Sie sind ein trauriger Mensch«, sagte er, als wir hinaus auf den schlammigen Weg traten. »Sie mussten einen schlimmen Verlust erdulden.«
    Sei ruhig, sagte ich mir, das kann er nicht wissen.
    Ich folgte ihm über den Straßenrand hinaus ins lichte Unterholz. Er ist ein Betrüger, dachte ich, doch wurde mir bei dem Gedanken plötzlich ganz heiß.
    Unterwegs zog er über den Märchensammler her, sagte, er sei ein Einfaltspinsel, der jede Geschichte kaufte, die ihm die Bauern im Laufe des Winters auftischten. Das seien überhaupt keine Märchen. Er jedoch, behauptete er, kenne eine vierundzwanzigkarätige Märchengeschichte und denke daran, sie beim Märchensammler gegen etwas Nützliches einzutauschen.
    Nichts davon ist wahr, sagte ich mir. Außerdem habe ich noch kein einziges Uhrwerk gesehen, noch keine Walze und kein Zahnrad.
    Eine Mutter, fuhr er fort, hatte einmal einen kleinen, sieben Jahre alten Jungen, der so liebenswert und gut war, dass ihn niemand anschauen konnte, ohne ihn nicht zu mögen; und er selbst war ihr auch das Liebste auf der ganzen Welt. Plötzlich aber starb er, und sie konnte keinen Trost finden …
    Ich brauchte ihn. Sollte er reden.
    »Sie weinte und weinte«, fuhr er fort. Doch nicht lange, nachdem das Kind zu Grabe getragen worden war, begann es, Nacht für Nacht an ebenjenen Orten aufzutauchen, an denen es zu Lebzeiten gesessen und gespielt hatte. Wenn die Mutter weinte, weinte auch der Junge, nur wenn der Morgen anbrach, war er verschwunden. Die Mutter konnte nicht aufhören zu wehklagen, und eines Nachts erschien ihr Junge in ebenjenem weißen Hemd, in dem er beerdigt worden war.
    Ihm zuzuhören, war eine Qual. Wäre ich nicht so auf seine Dienste angewiesen gewesen, hätte ich ihm das widerliche Maul gestopft.
    »Er trug den kleinen Lorbeerkranz noch auf dem Kopf, setzte sich zu ihren Füßen ans Bett und sagte: ›Ach, Mutter, bitte, hör doch auf zu weinen, sonst kann ich nicht in meinem Sarg schlafen, da mein Totenhemd nicht

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