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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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der nächsten Station aussteigen muß, steht er auf, geht auf den vorderen Ausstieg zu und – bums. Vielleicht beim fünften oder sechsten Mal ist er sich plötzlich ganz sicher, als ihm da der Kopf nach vorn rutscht und er dieses Päckchen sieht, ist sich ganz sicher, das schon einmal erlebt zu haben, schon einmal darüber nachgedacht zu haben, was es mit diesem Päckchen für eine Bewandtnis habe, aber da kommt seine Station, er steht auf, geht nach vorn und – dito. Vielleicht beim fünfzehnten Mal ist er ziemlich sicher, daß dieses Déjà-vu seinen Tod einleitet, und beim sechzehnten Mal ist er sich endlich ganz sicher. Erst irgendwann im dritten Dutzend kommt es dazu, daß Cheng von Anfang an weiß, daß es sich bei dem Päckchen um eine Bombe handelt, die ihm schon einige Male das Leben gekostet hat, ein Leben, das ja schließlich stets von vorn begonnen und Detail für Detail noch einmal gelebt werden muß, Schule, heiraten, Haus bauen, täglich fernsehen, auf die Waage stellen, die Haare am Kopf zählen, der ganze Trott immer wieder (was ihm freilich erst bewußt wird, da er das Paket beziehungsweise die Bombe erblickt). Er rennt also auf das Päckchen zu, um … nun, wahrscheinlich, um es aus dem fahrenden Zug zu werfen oder wie er sich das denkt (er denkt ja wohl nicht an Entschärfen). Und als er gerade das Päckchen greifen will, heißt es wieder einmal: Zurück zum Start.
    Aus unerfindlichen Gründen kommt Cheng die nächsten zigtausend Mal nicht auf die Idee, vor der Bombe davonzulaufen, sondern rennt immer wieder auf das Paket zu, jedesmal um den winzigen Bruchteil einer Sekunde schneller als im letzten Leben, so daß die Bombe irgendwann in seinen Händen explodiert, was in gewisser Hinsicht ein Erfolg ist, ein sportlicher, aber nicht wirklich eine Lösung des Problems. Daß er irgendwann so schnell sein wird, die Bombe zu packen, ein Fenster zu öffnen und sie hinauszuwerfen, bevor sie explodiert (er ist nicht einmal sicher, daß New Yorker U-Bahn-Fenster überhaupt zu öffnen sind), ist freilich ein Ding der Unmöglichkeit. Und als er nun dasitzt, zum abertausendsten Mal, und ihm das alles wieder einfällt und er gerade aufspringen will, um wieder einmal auf die Bombe zuzurennen, bemerkt er, daß sein rechtes Schuhband offen ist. Es geht ihm gar nicht darum, den Schuh zuzubinden, denn dafür hat er ja nun wirklich keine Zeit, andererseits stellt er sich die Frage, warum ihm ausgerechnet diesmal sein offenes Schuhband auffällt oder ob er sich bloß nicht mehr daran erinnern kann, wie er Mal für Mal über sein offenes Schuhband gestaunt hat und in der Folge über sein Staunen staunte. Und natürlich überlegt er, inwieweit dieses offene Schuhband seine Bemühungen maßgeblich beeinträchtigen könnte. Dieses Nachdenken führt ihn geradewegs in eine bisher unmögliche Zukunft. Denn wie jedes Nachdenken dauert es viel zu lange. Und als er genau das konstatiert und also endlich aufspringen will, detoniert die Bombe und zerreißt wie üblich die Jugendlichen. Cheng aber ist diesmal viel zu weit entfernt von der Explosion, zudem geschützt durch die Leute, die neben ihm sitzen, so daß er vollkommen unverletzt bleibt. Er sitzt da und hat plötzlich eine riesige Angst vor dem, was jetzt kommen wird.
     
    Was Cheng aus seinem Traum riß, das war die Stimme, die aus seinem Bett kam. Anfangs war ihm das nicht klar, denn obwohl bereits wach, hatte er das Gefühl, noch immer in dieser New Yorker U-Bahn zu sitzen und Angst zu haben vor einem Leben, das nach einer kleinen Ewigkeit aus beinahe völlig identischen Wiederholungen nun den Weg ins Ungewisse angetreten hatte. Natürlich war die U-Bahn voll von Stimmen, immerhin war gerade eine Bombe explodiert und die Aufregung groß, um so mehr, als bereits Rettungsmannschaften eingetroffen waren, also auch jede Menge Wichtigtuer, die mit Funksprechgeräten herumspielten und die jenen Leuten, die wußten, was sie zu tun hatten, sagten, was sie zu tun hatten.
    In diesem Stimmengewirr aus Panik und Bedeutsamkeit drang eine Stimme stärker als die anderen an Chengs Ohr, und während die anderen in den Traum zurückfielen, war Cheng plötzlich allein mit dieser Stimme, die ihm vollkommen unbekannt war. Weniger unbekannt war das Gesagte, nämlich ein unentwegtes Remember St . Kilda . Nun hatte der Schrecken also auch Cheng an einem so ungünstigen Ort wie dem Bett ereilt. Denn in dem Moment, da klar war, daß diese Stimme nicht aus seinem Traum, sondern aus demselben

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