Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
möglichen Termin stattfinden. Aber auch in den Reihen der Wirtschaft gab es einige, die meinten, es wäre viel zielführender, sich einmal über diese verdammten Sonntage zu unterhalten, die das Wirtschaftsjahr auseinanderrissen, durchlöcherten. So konnte Gott das unmöglich gemeint haben. Es sei am Ende des 20. Jahrhunderts einfach nicht mehr tragbar, einen ganzen Tag die Konsumbereitschaft der willigen Bürger dieses Landes zu unterbinden. Was die Vordenker einer Reformierung der Feiertage aber besonders vor den Kopf stieß (wenngleich es sich glücklicherweise um ein Randproblem handelte), war der Umstand, daß es engstirnige Querulanten gab, die hartnäckig darauf bestanden, sich der vorweihnachtlichen Kaufverpflichtung entziehen zu dürfen, also entweder verblendete Sektierer, die sich mit Gebeten vollstopften wie Hungernde mit Reis, oder Ignoranten, denen einfach gar nichts heilig war und die so taten, als existiere Weihnachten für sie schlichtweg nicht. Zu den letzteren zählte Cheng, der tatsächlich kein einziges Geschenk erstanden hatte und am Weihnachtsabend in seinem Büro saß, die Füße am Ofen, und sich ein Video ansah – die üblichen Schießereien und Sprüche in einem wie üblich verrotteten Los Angeles.
    Als er noch mit der Böhm verheiratet gewesen war, hatte er Weihnachten bei ihren Eltern verbringen müssen. Die Schwiegermutter, die die Entscheidung ihrer Tochter, einen offensichtlichen Chinesen zu ehelichen, als bedauerliche Entgleisung empfunden hatte, inszenierte Weihnachten im Sinn einer Beweisführung ihres guten Geschmacks. Leute, die sich einbilden, über einen guten Geschmack zu verfügen (was genaugenommen ein Widerspruch in sich ist, gut und Geschmack), haben einen entscheidenden Nachteil: Sie töten einem den Nerv. Zufällig verfügte Cheng im Notfall über das, was die weißen Barbaren unter Manieren verstehen, und zeigte sich jedesmal – unter Schmerzen – entzückt ob eines Weihnachtsbaums, der aussah wie ein Abendkleid von John Galliano, ob eines Essens, das aus mehr Gängen, Besteck und Gläsern als aus Eßbarem bestand, ob eines Adventkranzes, der mehr kostete, als Cheng in der Woche verdiente, ob eines Geschenks, von dem Cheng nicht so recht wußte, was es eigentlich darstellte (denn das Raffinement neuen Designs bestand ja darin, den Zweck einer Sache wie etwas Vulgäres zu vertuschen: Uhren, die keine Zeit angeben; Zigarettenetuis, die zu öffnen den einen oder anderen Finger kostet; Sessel, die einen Schlangenkörper voraussetzen; formschöne Küchengeräte, deren Anwendung Selbstmördern vorbehalten bleibt; technische Anlagen, die nirgends einzuschalten sind; Kunst, die hinter ihrem Konzept verschwindet; Kleidung, welche die anatomischen Verhältnisse ignoriert). Besonders anstrengend war, daß sich Cheng von seinem Schwiegervater jedesmal einen Vortrag über die Menschenrechtsverletzungen in China anhören mußte.
    Wofür man Cheng natürlich nicht persönlich verantwortlich machen konnte, aber immerhin, es warf doch ein bestimmtes Bild auf seine Rasse. Denn wo der christliche Wertmaßstab fehle, fehle der Anstand. Der Mensch werde zum Tier. Was Herr Böhm, der sich als engagierter Pharmazeut um den uneingeschränkten Tierversuch verdient gemacht hatte, bestens beurteilen konnte.
    Cheng war also recht zufrieden, daß er keine Weihnachtsbäume mehr bestaunen mußte und kein sadistischer Vivisektionschef ihn über die erschreckenden Eigenarten der chinesischen Rasse aufklärte. Von seiner Geschiedenen hatte er eine Karte bekommen. Sie war mit ihrem neuen Freund über Weihnachten in Florida, das sie ganz großartig fand. Was macht man in Florida? fragte sich Cheng. Aber das war natürlich keine richtige Frage.
    Er öffnete eine Flasche Wein, die ihm Frau Hammerschmid geschickt hatte. Eine von den Flaschen, mit der man seine Steuerschuld hätte begleichen können. Nun, Cheng hatte von Wein keine Ahnung, aber er fand diesen greisen Bordeaux trotzdem ganz anständig. Er sah auf die Lerchenfelder Straße. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Doch es war ein äußerst moderater Schneefall, der gerade ausreichte, um ein paar angeheiterte Hausmeister nach dem Verzehr ihrer Weihnachtsforelle noch auf die Straße zu zwingen.
    Cheng schenkte sich gerade neu ein (es war übrigens bereits seine zweite Flasche, und er befand sich also in einem Zustand, der sich kaum für irgendwelche extremmotorischen Herausforderungen eignete), als er ein Geräusch aus dem Vorzimmer vernahm. Das

Weitere Kostenlose Bücher