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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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besaß und zudem die einzige Person im Haus war, die Cheng nicht im Verdacht hatte, für die chinesische Mafia zu arbeiten. Natürlich mußte er eintreten, um den Weihnachtsbaum zu bewundern, unter welchem drei Kartäuser-Katzen lagen, die aussahen, als wären sie aus der Körpermasse von sechs Hauskatzen geformt worden, bloß daß am Schluß kaum etwas übriggeblieben war, um ihnen auch noch Beine zu verpassen. Trotzdem wackelten sie sofort in die Küche, als Frau Kremser in die Lade mit den Dosen griff, um Cheng auszuhelfen. Die drei Kartäuser stimmten Klagelaute an, als seien ihr barockes Lebensgefühl und ihr Idealgewicht gefährdet. Frau Kremser drückte beide Augen zu, welche sie ja ohnehin den ganzen Tag nicht aufbekam, und servierte ihren beinlosen, graublauen Tonnen ein weiteres Weihnachtsmenü.
    Cheng ging zurück in sein Büro, wo der Vorwurf in Person auf ihn wartete. Nachdem Batman eine halbe Dose verdrückt hatte, versah er seine Notdurft auf der Toilette (er gehörte zu jenen Katzen, die sich hin und wieder zu derartigen Showeinlagen herabließen, um solcherart Begeisterungsstürme zurückgebliebener Europäer zu evozieren; nun aber hatte er es bloß getan, weil die Erde in den Topfpflanzen einen ziemlich unappetitlichen Eindruck machte). Dann sah er sich nach einem bequemen Flecken um und entschied, daß unter der Schreibtischlampe, gebettet auf dem Papier von Tageszeitungen, er den Anstrengungen des Tages und einem gewissen Völlegefühl Tribut zollen werde.
    Cheng, der wieder seine Füße auf den Ofen gelegt hatte, betrachtete das Tier. Das war Rans Katze, daran bestand kein Zweifel, und ihm gefiel die Vorstellung gar nicht, daß er jetzt für die lukullischen und sinnlichen Bedürfnisse dieses arroganten Stück Fells verantwortlich sein sollte. Aber natürlich war er es bereits – was er in diesem Zusammenhang wollte, zählte nicht. Und weil von Natur aus kein großer Kämpfer gegen das Schicksal, fuhr er Batman über den Kopf, als streiche er einen Kontoauszug glatt. Dabei entdeckte er, daß an dem Band, welches der Kater um den Hals trug, ein Papierröllchen klebte. Was ihn an den Zettel erinnerte, der in Rans Einschußloch gesteckt hatte. Völlig zu Recht, wie sich sogleich herausstellte:
     
    WOLLEN SIE DEN GRUND FÜR RANULPH FIELDS TOD ERFAHREN? DANN SEIEN SIE IN DER SILVESTER-NACHT IN DER DISKOTHEK DEATH-TRAIN IN SCHLAGHOLZL. LASSEN SIE STRAKA AUS DEM SPIEL. DER GEHÖRT NICHT ZUR FAMILIE.
     
    Cheng hätte gerne gewußt, zu welcher Familie er gehörte und Straka nicht. Und er hätte gerne gewußt, wo eigentlich Schlagholzl liegt. Nun, das konnte man herausfinden. Andererseits sah er nicht wirklich ein, warum er sich ein derartiges Abenteuer zumuten sollte. Was hatte er eigentlich mit dieser Geschichte zu schaffen? Er überlegte, ob es nicht geschickter wäre, Straka davon zu informieren, daß er, Straka, nicht zur Familie gehöre, zu welcher auch immer. Der Familie der Versager, dachte Cheng bitter, überprüfte nochmals die Kette vor der Eingangstür und legte sich schlafen.
    Und stolperte in einen merkwürdigen Traum hinein: Er sitzt in einem U-Bahn-Zug, New Yorker U-Bahn, wie man sie aus dem Fernsehen kennt. Vor sich auf den Knien eine Aktentasche – also ein Mensch, der aus dem Büro kommt, müde, deprimiert, beinahe gedankenlos. Sein Kopf sinkt nach vorn, und zufällig trifft sein Blick auf ein kleines, in graues Packpapier gewickeltes Paket, fünf, sechs Meter von ihm entfernt, auf der gegenüberliegenden Sitzreihe. Rechts und links von dem Paket Jugendliche mit übergroßen Holzfällerhemden und Baseballkappen, die sich um dieses Paket nicht kümmern. Und in diesem Moment fällt Cheng alles wieder ein. All die abertausend Versuche. Vor Ewigkeiten war es das erste Mal gewesen, daß er in dieser U-Bahn gesessen hatte, die gleiche Tasche auf den Knien, genauso müde, genauso deprimiert, und als dann seine Station gekommen und er aufgestanden war, um sich zum vordersten Ausstieg zu begeben, war er an diesem Päckchen vorbeigekommen, das er bei diesem ersten Mal gar nicht bemerkt hatte und das genau in diesem Moment explodierte, so daß von ihm und einigen anderen nicht viel mehr übrigblieb als ein wenig verkohltes Fleisch. Als er dann das zweite Mal in dieser U-Bahn sitzt (sozusagen ein Leben später) und ihm vor Müdigkeit der Kopf nach vorn rutscht, sieht er das Paket, und er fühlt sich an etwas sehr Unangenehmes erinnert. Aber was es auch ist, es fällt ihm nicht ein, und da er an

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