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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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bis zur Brust in den Thermalbecken dieses Landes standen und unter der zynischen Anleitung von jungen, gesunden Menschen ihre Glieder verbogen. Dieser Rückenschmerz kam jetzt immer öfter – sein Arzt zuckte dazu mit den Schultern und meinte, mein Gott, wenn man auf die Vierzig zugehe, früher seien die Menschen in so einem Alter gestorben, dieser ganze unsinnige Gesundheitszirkus ändere ja nichts daran, daß man älter werde und körperlich absacke, daß man verblöde, daß man seiner Umwelt auf die Nerven gehe, daran werde auch die Wissenschaft nichts ändern, die ja, entgegen ihrer angeblichen Intention, den Menschen in eine immer größere Verzweiflung treibe. Der Mensch sei ja nicht gesünder, geschweige denn glücklicher geworden, sondern bloß das Produkt einer lächerlichen Sterbeverweigerung.
    Cheng döste den Vormittag dahin. Batman lag neben dem Ofen und arbeitete daran, die in der Fachliteratur angegebenen zwei Drittel seines Lebens zu verschlafen. Dabei lag er schon ziemlich weit im Plus (und hoffte, daß nun endlich wieder Lebensumstände eingetreten waren, welche diesen Vorsprung nicht gefährdeten). Zu Mittag wärmte sich Cheng eine Bohnensuppe, die andere Leute zuvor in eine Dose getan hatten. Eigentlich haßte er das Zeug, fühlte sich aber zu deprimiert, um in die lebensbejahende Region kulinarischer Anstrengungen vorzudringen. Nachdem er die Bohnensuppe einige Zeit angesehen und dann ins Klo geschüttet hatte, zog er sich etwas winterfester als üblich an und verließ die Wohnung für einen Spaziergang. Verrückt, dachte er, jetzt auch noch mit dem Spazierengehen anzufangen.
    Es hatte wieder stärker zu schneien begonnen, aber alles sah sehr normal aus. Die Schneeräumgeräte kamen zügig vorwärts, am Burgring fuhren Straßenbahnen. Cheng bewegte sich über den Heldenplatz. Hunde schossen mehr oder weniger elegant über die weiche, weiße Fläche, während ihre Besitzer wie Dörrpflaumen im Schnee standen. Auch Cheng stand da, die Hände tief in die Jackentaschen geschoben, eine Dörrpflaume ohne Hund. Zwei Frauen näherten sich ihm. Sie wirkten verloren, wie sie da aneinanderklebten, zusammengehalten durch einen Stadtplan, mit dem sie gemeinsam im Schneesturm flatterten. Unter ihren gewaltigen, russisch anmutenden Pelzkappen sah Cheng zwei Augenpaare, in die eine plötzliche Hoffnung eingekehrt war.
    Eine von den beiden chinesischen Touristinnen sprach ihn in ihrer Landessprache an, in welchem Chinesisch auch immer. Cheng machte ein hilfloses Gesicht und fragte auf englisch, was für ein Problem sie hätten. »Hietzing«, sagte die eine, und die andere bestätigte »Yes, Hietzing«. Auf ihrem Plan zeigte er ihnen den Weg zum Karlsplatz, von wo sie mit der U4 direkt nach Hietzing fahren konnten. Sie lachten ihn an, dankten auf chinesisch und gingen in die falsche Richtung davon. Er hatte nicht den Mumm, sie davon abzuhalten. Mit einem Mal fühlte er sich sehr unwohl in dieser Schneewüste, in der ihm nun all die Dackel, Schäfer und Dörrpflaumen deplaziert erschienen.
    Als er nach Hause kam, strich Batman um seine Füße und hatte diesen Gesichtsausdruck aufgesetzt, der besagte, es wäre an der Zeit, seine Hungersnot zu beenden. Cheng preßte Luft durch die geschlossenen Lippen und blickte zur Decke, als sitze dort tatsächlich der Schöpfer der Welt, der sich ja auch bei der Erschaffung der Hauskatze etwas gedacht haben mußte. Mußte er wirklich?
    Eine halbe Stunde später, Batman hatte zwischenzeitlich wieder seiner Müdigkeit nachgegeben, läutete das Telefon, und Cheng, der in seinem Bürosessel eingenickt war, fuhr wie von einem Aufwärtshaken getrieben in die Höhe.
    »Ja«, sagte Cheng, aber es klang irgendwie nach Nein.
    »Hier Straka, wie geht es Ihnen? Man hat mir gesagt, Sie wollten mich sprechen.«
    »Könnten Sie bei mir vorbeischauen?«
    »Liegt schon wieder eine Menge Schnee. Aber ich versuche es. Bis später.«
    Es war bereits knapp vor Mitternacht, als Straka kam und erklärte, er sei noch zu einem Mordfall gerufen worden. Immerhin, die Sachlage sei diesmal klar, wenngleich der Täter sich auf der Flucht befinde.
    »Der Sohn bringt seine Mutter um«, erklärte Straka, »nachdem die gute Frau ihren Buben dreißig Jahre gefangenhielt, um ihn vor der Sünde zu bewahren. Daß so einer einmal durchdreht, das Tranchiermesser aus der Lade holt und seine Mutter in einem Zustand zurückläßt, daß selbst unserem lieben Doktor Hantschk der Appetit vergeht, so etwas ist voraussehbar,

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