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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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ihn zurück. Er war allein im Gang, aber sowohl von der Hotelhalle als auch vom Restaurant aus zu sehen. Und nach diesem Telefonat war es ihm lieber denn je, wenn Strakas Leute ihn sehen konnten. Was auf der Toilette nicht mehr der Fall sein würde.
    Während Cheng nach Strakas Leuten Ausschau hielt, öffnete sich unmerklich die zur Toilette führende Tür, und aus dem Spalt fuhr ein Lederhandschuh. Der Lederhandschuh war schwarz und glatt und glänzend und reichte zum muskulösen Oberarm seiner Trägerin. Sie packte Cheng mit einer Kraft, die dem solcherart Überraschten überirdisch erschien, und zog ihn durch die nun weit geöffnete Tür in den Toilettenraum. Und zwar mit einer derartigen Rasanz, daß Cheng bloß einen sehr kurzen, sehr dünnen Pfiff auszustoßen vermochte, der sich als Alarm kaum eignete. Und auch in den nächsten drei, vier Sekunden brachte er nichts anderes heraus, als nach Luft zu ringen, die nicht kam. Dann erlöste ihn ein Schlag, und er fiel in ein Dunkel, das ihn umgab wie ein sich schließendes Kuvert.
     
    Nicht, daß Strakas Leute nicht auf der Hut waren. Sowohl von der Hotelhalle als auch vom Restaurant aus hatten sie ihren Chinesen im Visier. Hätte Cheng in aller Ruhe die Toilette betreten, wäre ihm der Mann, der ihm in die Lounge gefolgt war, mit derselben Ruhe auch dorthin nachgegangen, schon um zu erfahren, was es mit dem Telefonat auf sich hatte. Als nun aber Cheng verschwand – und zwar derart plötzlich, daß man an Major Bellows in Bezaubernde Jeannie denken mußte –, trat eine Verwirrung ein, die die Beschatter kurzfristig lähmte und der als erster der Mann in der Lounge begegnete, indem er in den Verbindungsgang lief. Als er und drei seiner Kollegen die Toilette betraten, war diese leer. Eine weitere Tür, die aufgebrochen war, führte in einen Hinterhof. Die Männer stürmten hinaus, aber das war schon das hilflose Stürmen derer, die sich noch im Moment der Niederlage arbeitsam gebärden.
    Oberstleutnant Straka saß in einem Extrazimmer des Kurhotels Olympia im fünf Kilometer entfernten Wahnegg. Er war etwas beunruhigt gewesen, als Boeckel durchgegeben hatte, Cheng sei zum Telefon gerufen worden. Und als derselbe Boeckel nun mit einer etwas bröseligen Stimme meldete, man habe Cheng verloren, mit ziemlicher Sicherheit sei er entführt worden, da schlug Straka – ganz entgegen seiner Art – mit einer solchen Wucht auf den Tisch, daß jenes auf diesem Tisch plazierte, mit soviel Liebe gefertigte biedermeierliche Blumengebinde der Olympiawirtin in eine irreparable Unordnung geriet.

6
    In der Regel stellt das Erwachen eine Befreiung dar. Wer hat heutzutage schon erfreuliche Träume, wo uns doch die Psychoanalyse geradezu zwingt, alles Häßliche, Monströse, Perverse, das wir nicht schon ausgelebt oder bloß in Ansätzen ausgelebt haben, in unsere Träume zu packen. Andererseits bedeutet dieses Erwachen, daß wieder ein neuer Tag beginnt, in dessen zähen Verlauf man mit dem Holzhammer den Anschein von Sinnhaftigkeit hineinzuklopfen versucht. Aber wie gesagt: Alpträume sind nicht unbedingt der Zuckerguß in unserem Leben.
    Das mit dem bösen Erwachen hingegen ist ja zumeist sprichwörtlich gemeint. Doch als nun Cheng aus seiner Ohnmacht, die in Form einer medikamentösen Betäubung verlängert worden war, erwachte, da war das allerdings tatsächlich ein böses Erwachen. Was ihm nicht sogleich klar war, weil er es nicht glauben konnte.
    Cheng war kein Wintermensch und schon gar kein Wintersportler und am allerwenigsten ein Klettersportler, weshalb ihm dieser Anblick einer vereisten Steilwand, an deren Rändern Felsblöcke wie Haifischzähne herausstanden, sehr, sehr fremd war, genaugenommen allein aus dem Fernsehen bekannt. Was nun den Eindruck des Ungewöhnlichen, eigentlich völlig Unmöglichen noch verstärkte, das war der Blickwinkel, den Cheng auf diese Steilwand hatte und der sich daraus ergab, daß Cheng, mit den Füßen an ein Seil gebunden, kopfüber in den Abgrund hinunterblinzelte. Und als er das nun endlich realisierte, wurde er nicht nervös oder gar panisch, sondern ganz im Gegenteil ziemlich locker (im Kopf), weil er sich sagte, er sei zwar aufgewacht, aber bloß in einem weiteren Traum, einem Alptraum, gar keine Frage, aber schließlich auch nur ein Traum, aus dem man aufwache, ja sich sogar zwingen könne aufzuwachen. Nun war das aber leider kein Alptraum. Und wie man sich vorstellen kann, wurde es Cheng recht bald bewußt (der eisige Wind tat das

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