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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Seine dazu), daß seine mißliche Lage durch kein neuerliches Erwachen aus der Welt zu schaffen war. Zwar gab es für Cheng – das Erwachen betreffend – eine noch schlimmere Vorstellung, nämlich in einem verschlossenen Sarg zu erwachen, aber er dachte in diesem Moment einfach nicht daran, was noch schlimmer sein könnte als die Situation, in der er sich befand.
    Das Seil, an dem er hing beziehungsweise im Sturm schaukelte, war über einen Vorsprung gespannt, so daß einige Meter zwischen ihm und der Felswand lagen. Mag sein, daß ein geübter Sportler es trotz der widrigen Umstände geschafft hätte, seinen Körper zur Wand zu pendeln oder sich aufzurollen und dann allein mit den Händen sich am Seil hinaufzuziehen. Mag sein, daß Cheng vielleicht eine Sekunde daran dachte, so etwas zu versuchen. Mag sein, daß irgendwo auf der Welt ein Medium die Angst und das Flehen Chengs im Kreuzbein spürte. Mag sein, daß Lichtjahre entfernt oder in mehreren Dutzend Paralleluniversen jemand ganz anderer sich in der haargenau gleichen Situation befand. Das alles änderte nichts daran, daß Cheng vollkommen hilflos war. Und genau in dem Moment, da er daran dachte, daß vielleicht Straka und seine Männer auf dem Weg waren, um ihn zu befreien, und er jetzt zu dem Felsen hinaufsah, über den das Seil lief, sah er, wie sich eine Frau über den Vorsprung beugte (es hätte genausogut ein Mann sein können, da der Schädel in einer pelzumrandeten Kapuze steckte und sich eine Skibrille über die Augen spannte – aber er ahnte bereits, daß das nicht die Bergrettung war). Die Frau rief ihm etwas zu, das er wegen des Sturmgeheuls nicht verstehen konnte. Aber obwohl sie fünf, sechs Meter entfernt war und zwischen ihnen das Schneetreiben lag, glaubte er, ihre Lippen lesen zu können. Überdeutlich, wie ihm schien, und ob das nun stimmte oder bloß Intuition war oder eine naheliegende Einbildung, Cheng hatte bedauerlicherweise recht, sie rief ihm zu: »Forget St. Kilda.« Und da spürte er, daß etwas zwischen seinen Pobacken klemmte, und er konnte sich gut vorstellen, was es war. Wenn er tot war, würde Straka das Papierröllchen aus seinem Hintern ziehen. Eigentlich hatte Cheng damit gerechnet, daß die Frau ihn einfach hängen lassen würde. Er wollte damit rechnen, denn dann hatte er immerhin die Chance, daß ihn Straka rechtzeitig fand. Aber nun sah er, wie die Frau ein Messer aus ihrem Rucksack zog, um das Seil zu durchtrennen. Für einen Moment war Cheng vollkommen ruhig (und er hatte auch den Eindruck, die Welt um ihn sei vollkommen ruhig), dann riß das Seil und Cheng verlor einen Schrei, der ihm voraus in die Tiefe stürzte.

7
    Der ehemalige Abfahrtsweltmeister sprach von einem Skandal, den er sich nicht bieten lassen werde. Sein Bruder, der Bürgermeister von Schlagholzl, assistierte. Der Leiter der örtlichen Gendarmerie stand betreten daneben. Seine Existenz war gänzlich vom Wohlwollen der beiden Ortskaiser abhängig, zudem war er mit einer Schwester der beiden verheiratet, die ihn ziemlich unter Kontrolle hatte. Andererseits war so ein Kriminal-Oberstleutnant einer Wiener Mordgruppe auch kein Schmarrn.
    »Ihre Männer haben sich wie die sprichwörtlichen Elefanten im Porzellanladen aufgeführt. Wobei ich keinen Elefanten beleidigt haben möchte, indem ich ihn mit der Wiener Polizei in Verbindung bringe, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    Die Beleidigungen des Weltmeisters kümmerten Straka nicht. Was ihn kümmerte, war Cheng, der sich auf ihn verlassen hatte und nun in die Fänge einer Person geraten war, die mit Vorliebe Papierröllchen in Einschußlöcher steckte.
    Der Hinterhof, in den Strakas Männer gelangt waren, nachdem sie das Faktum einer leeren Toilette hatten hinnehmen müssen, war von einer Mauer und den Gebäuden der Hotelanlage umgeben. Eine Tür führte in die Küche des Restaurants, eine andere in einen hinter der Portiersloge gelegenen Büroraum. Auf die Straße konnte Cheng von hier aus also nicht gelangt sein.
    Boeckel hatte einen Mann zurück auf die Toilette geschickt, um nach etwaigen Spuren zu suchen, Mader und Pichler sollten sich in der Küche umsehen, er selbst und Wallinger versuchten es bei der anderen Tür. Im Rahmen dieser Aktion wurden Angestellte und Hotelgäste befragt. Und es zeigte sich wieder, wie unbeliebt speziell Polizisten aus der Bundeshauptstadt waren, die allgemein als Proleten galten. Man zeigte sich empört über die Störung. Der Hotelmanager war erschienen, ein

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