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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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tatsächlich von der Chaiselongue sprang, was Cheng in diesem Moment nicht weiter auffiel, so daß er es verabsäumte, an Lauschers Schwerhörigkeit zu zweifeln.
     
    Daß er in das nächste Reisebüro ging und einen Flug nach Las Vegas buchte, war eine Verrücktheit. Gar nicht so sehr, weil er diesbezüglich keinen Auftrag hatte, die Reise also selbst bezahlen mußte. Denn detektivisch gesehen konnte es kein Fehler sein, sich Chaloupkas St . Kilda anzusehen, sich Herrn Erwin anzusehen und zu klären, wer dieser ominöse Henry war (den übrigens eine Menge von Leuten erkannt hätten, hätte ihnen Cheng bloß die Fotografie gezeigt). Nein, die eigentliche Verrücktheit bestand darin, einen Flug zu buchen, obwohl Cheng unter einer schweren Form von Flugangst litt. Einer der Gründe, warum er bisher nicht weiter als bis nach Griechenland gekommen war (sein erster und letzter Flug, zurück hatte er die Eisenbahn genommen).
    Als er nun aus dem Reisebüro trat, nahm er sich endlich ein wenig Zeit, um sich daran zu erinnern, daß es für ihn kaum etwas Schlimmeres gab, als zusammengesperrt mit einem Haufen anderer Unglücklicher darauf zu warten, in den Atlantik zu stürzen oder in der Luft zu explodieren. Denn daß ein Flugzeug, das er betrat, mit ziemlicher Sicherheit abstürzen würde, davon glaubte er ausgehen zu müssen. Er empfand diese Ungetüme als fliegende Särge. Die Statistik sprach natürlich dagegen, aber Cheng hielt die Statistiken für gefälscht, abgesehen davon, daß er zur Masse der Neurotiker gehörte, denen keine Statistik je geholfen hat. (Die Flugangst war seine einzige Neurose und so gesehen kein großes Problem. Er brauchte einfach nicht zu fliegen. So einfach wäre es gewesen.)
    Er litt drei Tage lang unter Vorangst. Gleich in der ersten Nacht ereilte ihn der erwartete Alptraum: Er sitzt natürlich in einem Flugzeug, aber überraschenderweise fühlt er sich recht wohl. Er hat ein Glas besten irischen Whiskeys in der Hand, in dem drei Eiswürfel fröhlich schaukeln. Rauchverbot ist kein Thema. Die Stewardessen mit Rotkäppchenflair lächeln, bis die Wölfe schmelzen, der Flugkapitän erzählt Anekdoten (mit dem leisen Unterton des Bedauerns, daß Entführungen mit Niveau heutzutage so selten geworden sind), und draußen gibt ein Sonnenuntergang sein Bestes. Cheng ist sich sehr bewußt, daß er eigentlich unter Flugangst leidet, aber er ist die Ruhe selbst. Und wie um die Idylle zu vervollständigen, sitzt eine kleine, alte Dame neben ihm und strickt einen Pullover. Für ihren Enkel Ronald, erzählt sie, sie habe elf Enkel und drei Urenkel. Cheng gratuliert. Ob er sich denn gar nicht vor dem Fliegen fürchte, will die freundliche Seniorin wissen. Cheng lächelt das Lächeln jener, die vorgeben, mehr Zeit in Flugzeugen zu verbringen als andere vor dem Fernseher. Sie fürchte sich schon ein wenig, sagt die Seniorin, was ja auch kein Wunder ist, sie sei in ihrem Leben erst siebenmal in einem Flugzeug gesessen, das erste Mal 1939 in einer Junkers G 38, meine Güte, auf jeden Fall seien alle sieben Flugzeuge abgestürzt, was man sich einmal vorstellen müsse. Sie persönlich glaube eigentlich nicht an Gott. Würde sie es, so müßte sie sich natürlich die Frage stellen, was für einen Sinn das ergebe, daß sie einerseits mit jedem Flugzeug, in das sie steige, abstürze, andererseits jedesmal überlebe, bedauerlicherweise immer als einzige, was sie als peinlich, ja ungerecht empfinde. Immerhin, sie sei jetzt über neunzig, ihr lieber Hugo schon seit fünf Jahren unter der Erde (der Boeing-757-Crash am Flughafen von Phoenix), und es sei wirklich an der Zeit, daß es auch einmal mit ihr zu Ende gehe, wenn sie auch nicht so recht daran glaube.
    Irgend etwas in Chengs Körper fällt auseinander, und was es auch immer ist, es bewirkt, daß er in Atemnot gerät, der Eiter in seinen Nebenhöhlen kocht, sein Herz sich zusammenkrampft und seine Knie wie Helden der Arbeit gegeneinander schlagen. Bevor er in Ohnmacht fällt, spürt er noch, wie das Flugzeug sich dramatisch nach vorn neigt und die alte Dame seufzend meint – ohne freilich ihr Stricken zu unterbrechen –, daß sie es ja gewußt habe.
     
    »Das kann doch nicht dein Ernst sein«, sagte Irene, als Cheng mit seinem Hund in ihrer Tür stand und sie bat, Lauscher einige Tage, höchstens eine Woche bei sich aufzunehmen. Cheng deutete vorsichtig an, daß doch Irenes momentaner Partner es übernehmen könne, Lauscher spazierenzuführen. Sie lebe derzeit

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