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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Nebenhöhlen und ein wütender Magen.
    Er blieb den Tag über im Bett, schluckte pharmazeutische Versprechungen, rieb sich ein, inhalierte (wobei er – verärgert über seine Krankheit – sich selbst einen Saukerl und Lauskerl schimpfte) und schwitzte sich in Träume, in denen er den Flugzeugabstürzen, Entführungen und dem Service der Flugbegleitung mit Schüttelfrost und Gleichgültigkeit begegnete.
    Um zwei in der Nacht erwachte er, noch immer verrotzt und leicht fiebrig, aber erfüllt von der Ruhe eines Selbstmörders. Drei Stunden später stieg er in ein Taxi, das ihn zum Flughafen brachte.

9
    Er stand in einer kleinen Schlange, die sich vor dem Schalter der British Airways gebildet hatte. Irgendein blasierter Mensch mit dem Gesichtsausdruck eines toten Fischs spielte sich auf, zog englische Wörter auf, als würde seine Nase einer Spur feinstem Kokses folgen, und wollte partout nicht weichen, bevor die Dame hinter dem Schalter alle Schuld auf sich genommen hatte. Cheng ging dieser Mensch aus Tweed und Cambridgeblähungen mächtig auf die Nerven, weshalb er ein wenig aus der Reihe trat und sich umwandte, um nicht weiter die Erregung seiner Lordschaft mit ansehen zu müssen. Und als er nun in die Halle blickte und sich überlegte, wie wohl die Romantiker, ein Friedrich, ein Runge, ein Carl Blechen, einen solchen Ort dargestellt hätten, da sah er einen kleinen kräftigen Mann in einem Khakianzug mit kurzer Hose. Er trug einen voluminösen roten Plastikkoffer – offensichtlich mit der Leichtigkeit eines Gewichthebers. Unter seiner Knollennase breitete sich ein dichter, bürstenartiger Schnurrbart aus. Sein Gang verriet, daß er die letzten Stunden nicht auf dem trockenen gesessen hatte. Cheng zweifelte keine Sekunde, daß es sich um Henry handelte, der nun mit einer Selbstverständlichkeit dem Ausgang zustrebte, die verriet, daß er nicht das erste Mal hier war.
    Cheng packte seine Tasche und eilte hinterher. Draußen sah er, wie Henry in ein Taxi stieg. Cheng sprang in den nächsten Wagen und gab dem Fahrer die Anweisung, seinem soeben losgefahrenen Kollegen zu folgen. Der Chauffeur wandte sich zu Cheng um. Sein Haar war fettig wie in einem Dokumentarfilm, seine Augen klein, aber feucht, die Backenknochen vorgeschoben wie Fenstersimse. In seiner Nase steckten winzige, leuchtende Accessoires. Seine Haut schien wie mit Mehl bestrichen, wodurch das modrige Dunkelblau seiner Zähne besonders schön zur Geltung kam. Er trug ein Kettenhemd und einen Herkuleskäfer von einer Lederjacke, darauf eine Dior-Brosche in Form eines Kreuzes. »Keine Verfolgungsjagden«, erklärte er.
    »Sie brauchen ja nicht unser Leben zu riskieren«, sagte Cheng und drückte dem Taxifahrer einen Geldschein in die Hand, der aus einem Nein ein Ja machte.
     
    Die Menschen verbringen zuviel Zeit vor dem Fernsehapparat, was angesichts ihres Daseins nicht verwundert. Man kann es niemandem verdenken, daß ihn die Wirklichkeit der Straßen von San Francisco mehr aufregt als die wirklichen Straßen von San Francisco, die entweder verstopft sind oder ziemlich leer und auf denen man auch nicht mehr Polizeiwagen, Schießereien und Verfolgungsjagden sieht als in Wien oder München. Das ist ja die große Enttäuschung, wenn man nach Amerika kommt, daß Amerika nicht so aufregend ist wie im Film. Dabei hat man das Gefühl, jedermann sei ehrlich bemüht, den filmischen Vorgaben zu entsprechen – umsonst: Die Polizisten in den Filmen sind einfach brutaler, die Halbstarken halbstärker, die Politiker korrupter, die Jungs an der Börse smarter, die Mörder tougher, die Selbstmörder cooler, die Südstaatler fetter, die Leute im OP sind lustiger, die Collegegirls häßlicher, die Highways länger, breiter und öder, Pizzen schlabbriger, Hamburger glänzender, Soldaten sensibler, O.J. dunkler, Michael Jackson heller, Richard Gere grauer, der Dreck auf den Straßen ist dreckiger, und die Zukunft (Blade Runner, Strange Days) ist härter, schneller, paranoider und gutaussehender, als sie es je sein wird; angesichts der verfilmten Zukunft wird man die wirkliche Zukunft nur noch als erbärmlich, unspektakulär und trostlos empfinden können.
    Der Taxifahrer mit der Mehlhaut hatte natürlich jede Menge Filme gesehen, in denen seine Berufsgruppe das Letzte aus ihren gelben Kisten herausholt, um – einen Arm aus dem Fenster hängend und selbstredend immer gegen eine Einbahnstraße fahrend – sich Fahrduelle zu liefern, die häufig in den wunderschönsten Saltos

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