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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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war, für derartige Aktionen schließlich nicht konzipiert. Um nicht kopfüber hinunterzustürzen, versuchte Cheng sich seitlich hindurchzuzwängen, blieb aber mit der Gürtelschnalle hängen und mußte sogleich an einen Zeitungsartikel betreffs eines Pensionisten denken, der sich in selbstmörderischer Absicht aus dem Fenster gestürzt hatte, aber unglücklicherweise mit den Aufschlägen seiner Hosen am Sims hängengeblieben war, und zwar solcherart, daß seine verzweifelten Bemühungen, abzustürzen, versagten. Er klebte an der Fassade seines Hauses, sozusagen an der Fassade einer verhaßten Welt, und mußte mit ansehen, wie freiwillige und hauptberufliche Selbstmordverhinderer ihm zuschrien, er solle durchhalten, er solle nicht den Mut verlieren, man sei gleich bei ihm. Und dann wurden Leitern ausgefahren, und der Mann wußte, er hatte verloren. Denn dort, wo er nun hinkam, würde man sehr darauf achten, daß er sich nicht vor Ablauf der regulären Spielzeit verabschiedete.
    Cheng fragte sich, warum der alte Mann nicht auf die Idee gekommen war, seine Hose zu öffnen – aus Scham? Oder hatte er in der Aufregung das Naheliegende übersehen? Oder hatte ihm gerade für das Naheliegende die Kraft gefehlt? Cheng auf jeden Fall versuchte nun seine Gürtelschnalle zu öffnen. Doch gerade in diesem Moment passierte ihm jene unbewußte Bewegung, die dazu führte, daß er auch mit geschlossener Gürtelschnalle durch den Spalt rutschte. Und während er nun auf den Steinboden zustürzte, hatte er seine Hand an der Hose, wo sie – Ausdruck der Bestürzung – auch blieb. Mag sein, daß seine imaginäre Hand sich redlich Mühe gab, den Sturz abzufangen, umsonst, es war sein Schädel, der den Sturz abfing. Kurz bevor er ohnmächtig wurde, erfaßte ihn ein warmes Gefühl der Belustigung.

10
    »Man sollte aufpassen, daß einem gewisse Dinge nicht zur Routine werden«, sagte Straka, der diesmal ohne Blumenstrauß gekommen war, vielleicht weil er dachte, Blumen schenke man immer bloß beim ersten Mal.
    »Ich habe nichts gegen Routine«, antwortete Cheng und lächelte, soweit man das ein Lächeln nennen konnte.
    Die Sache war nicht weiter schlimm, die Gehirnerschütterung so gut wie überstanden, bloß sein Trommelfell hatte irgend etwas abbekommen (die Ärzte erklärten es so ausführlich wie unverständlich), weshalb er in Zukunft vielleicht ein wenig schlechter hören würde. Daß sein rechter Arm erneut gebrochen war, nahm er mit jener Gelassenheit hin, welche eben die Routine mit sich bringt.
    »Ich dachte, Sie wollten nach Las Vegas.«
    »Am Flughafen habe ich diesen Henry gesehen, den Freund Geisslers, der auf dem Foto. Natürlich bin ich hinterher. Ich meine, das war doch eine wirkliche Chance. Ich bin ihm bis in dieses Lokal gefolgt, wo mich dann mein Toilettenschicksal ereilt hat. Verrückte Sache, ich hätte einfach warten sollen.«
    »Sie werden noch berühmt.«
    »Was?«
    Straka wiederholte das Gesagte, nur etwas lauter. Der Arzt hatte ihn bereits vorgewarnt.
    »Die haben mir ein Hörgerät versprochen.« Cheng lachte. Straka lachte zurück, ein wenig verzweifelt. Er überlegte, wie man Cheng vor sich selbst schützen konnte. Weshalb er auch gewisse Skrupel hatte, ihn über den neuesten Stand zu informieren. Aber das war er ihm schuldig, es war nun einmal Chengs Fall.
    »Chaloupka ist jetzt auch in Wien.«
    »Nein, hören Sie auf, Straka.«
    »Gestern angekommen.«
    »Und was haben Sie unternommen?«
    »Was sollte ich unternehmen, nur weil der Mann zusammen mit Geissler auf einem Foto posiert?«
    »Und der Name seines Lokals: St . Kilda? «
    »Finden Sie, daß das zu mehr reicht als zum Daumendrehen?«
    »Also gut. Aber vielleicht können Sie herausfinden, wer dieser Henry ist. Er wohnt im Okura.«
    »Und wenn das ein harmloser Geschäftsmann ist? Sind Sie dann so gut und lassen die Sache auf sich beruhen? Ich mag Ihnen nichts vorschreiben, aber bedenken Sie: Sie könnten von einem herabstürzenden Biedermeierschrank erschlagen werden oder in das Schönbrunner Löwengehege geraten, oder was weiß ich, was Ihnen noch alles zustößt, wenn Sie weiter an dem Fall arbeiten.«
    »Sie machen sich Sorgen um mich?«
    »Sagen wir, ich will mir nicht vorstellen, wie Sie aussehen, wenn ich Sie das nächste Mal besuche.«
     
    Drei Tage später verließ Cheng das Spital – da war niemand, der ihn aufhalten mochte. Den Gipsarm hatte er in einem Tragetuch, aber er war ohne Hörgerät, da noch einige Untersuchungen anstanden, und

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