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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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zu treten. Er zog den Riegel zurück und drückte die Klinke, die so leicht aus dem Loch rutschte, als sei sie gerade dafür konstruiert worden. Der metallische Klang, den Cheng vernahm, machte klar, daß auch die andere Klinke ihren angestammten Platz und somit ihre Funktion aufgegeben hatte. Cheng betrachtete den Griff in seiner Hand, als wäre er aus Kuhmist.
    Vollkommen in Einklang mit den Tragödien seines Lebens war es die andere Klinke, auf welcher der Stift saß. Also trat er gegen die Tür, was aber nichts einbrachte. Defekter Türgriff hin oder her, das war eine nagelneue Klotür, die man nicht einfach mit Handkanten, Zeigefingern oder Schuhspitzen durchbohren konnte. Nun, irgendwann würde jemand kommen. Das sagen sich natürlich viele Leute, nicht nur in Romanen und existentialistischen Theaterstücken, sondern auch im wirklichen Leben.
    Überall auf der Welt stehen Leute an Autobusstationen, warten auf Flughäfen oder sitzen mit einem kleinen numerierten Abriß in den großen Wartesälen der Ambulatorien, einige seit Stunden (das sind die noch Ungehaltenen), andere seit Tagen und Wochen und Jahren, ganz abgesehen von den armen Schweinen, die nur mal ihren Paß erneuern lassen wollten, die einem Blutspende-Aufruf folgten oder der freundlichen Einladung, im Finanzamt vorbeizuschauen. Obgleich ein allgemeines Phänomen, kann der einzelne Betroffene es zunächst nicht fassen, sieht sich noch einmal die Tafel mit den Durchgangszeiten der Busse an, aber hier steht es ja, schwarz auf weiß, was ihm natürlich das Recht gibt, sich aufzuregen, zusammen mit den anderen Frischlingen, die auch noch hoffen, allerdings – einige geben es bereits zu – auf ein Wunder. Gar keine Frage, Wunder passieren, Busse erscheinen, Flugzeuge starten, Pässe werden ausgestellt, andererseits wird jeder einsehen, daß der Sinn eines Wunders mit seiner Häufung abnimmt, Wunder sind nun einmal exklusiv, ganz im Gegensatz zum Warten auf ein Wunder. Dazu kommt, daß der Mensch von Anbeginn ein Wartender gewesen ist. Wer einst auf gutes Wetter, das Anbrechen des Tages oder eine zündende Idee gewartet hat, wartet heute eben auf Busse oder die Aufrufung seines Namens oder seiner Nummer. Nur der wartende Mensch ist befähigt, beziehungsweise verurteilt, an Gott zu glauben. Erst im Warten (und somit auch im Hoffen auf ein Wunder) wird er gläubig.
    Einige natürlich glauben, sie müßten sich gegen ihr Schicksal auflehnen, etwa jene, welche die Autobusstation einfach verlassen, damit aber den Zweck ihrer ganzen Existenz einbüßen.
    Auch Cheng wehrte sich gegen den Umstand, in der Kabine eingeschlossen zu sein, und wollte nicht wahrhaben, daß da niemand war, den eine volle Blase auf die Toilette zwang (es bereitet uns Schwierigkeiten einzusehen, daß das Wunder nicht darin besteht, daß niemand pissen muß, sondern im Gegenteil, daß jemand vorbeikommt, um zu pissen und uns in der Folge zu retten).
    Die einzige Fluchtmöglichkeit schien der Spalt zu sein, der zwischen der oberen Kante der Tür und dem Plafond bestand. Das war natürlich eine verrückte Idee für einen Einarmigen, der nie ein großer Sportler gewesen war, woran auch seine Behinderung nichts geändert hatte (während nicht wenige der frisch Behinderten einen fanatischen Zwang zur Körperbetätigung entwickeln, um dann vielleicht auch noch an sogenannten Behindertenolympiaden teilzunehmen, diesem Höhepunkt der Ausgrenzung und der Behindertenverhöhnung).
    Cheng legte den Riegel wieder vor, klappte den Klodeckel herunter, stieg darauf (der Kunststoff stöhnte verdächtig), setzte sein gesundes Bein an den Riegel und schwang sich nach vorn. Seine rechte Hand erreichte die Kante, krallte sich fest, und Cheng zog sich zur Tür, während sein schwächeres Bein im Winkel zwischen Tür und Seitenwand Halt suchte. Nun war nur noch das Problem, sich mit einem Arm in die Höhe und durch den Spalt zu ziehen und irgendwie den Boden auf der anderen Seite zu erreichen. Nun, das ist ja nichts Neues, daß uns ein hinterhältiger Schutzengel immer wieder gerade so viel übermenschliche Kraft verleiht, daß wir den Höhepunkt der Katastrophe aber auch ja nicht verfehlen.
    Hätte Cheng sich nicht hinaufziehen können, wäre er eben zurück auf den Klodeckel gesprungen, was – wenn überhaupt – bloß zu einem kleinen Unfall geführt hätte, aber er schaffte es (wohl auch Dank der Illusion, seine linke Hand helfe mit) und wand sich durch den Spalt, der allerdings wirklich überaus schmal

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