Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
sich so ganz besonders eignen, dem Opfer seine Hilflosigkeit vor Augen zu führen. Kein Wunder also, daß dieser Tatort – obgleich fluchttechnisch gesehen wenig ideal – so gern gewählt wird.)
    Cheng ging langsam die Stufen hinunter. Er wollte nicht mit dem zweiten Lift fahren. Das wäre ihm pietätlos erschienen, schließlich konnte er sich ja vorstellen, wie es gerade in der anderen Kabine zuging. Vielleicht hätte er im Vorbeifahren sogar ihre Schreie gehört (eine erstaunliche Überschätzung seines angeschlagenen Gehörs). Nein, da wollte er sich lieber das Stiegenhaus hinunterquälen.
    In der Halle angekommen, sah er nach dem Lift. Natürlich steckte er noch im Schacht. Es hatte sich bereits eine kleine Ansammlung gebildet, und irgendein Mensch in Hoteluniform zeigte sich untröstlich. Cheng, dem die Schwermut des Gescheiterten auf die Brust drückte, seufzte, trat an die Rezeption und bat, daß man Oberstleutnant Straka von der Kriminalpolizei benachrichtige, er möchte ins Okura kommen. Cheng nannte Strakas Nummer, aber der Portier schenkte ihm einen vorsichtigen Blick der Skepsis und fragte nach Chengs Namen und Zimmernummer. Er sei hier nicht Gast, sagte Cheng, worauf die Vorsicht aus dem Blick herausfiel. Der Portier, der in seiner steifen, pomadigen Art ein wenig an Willy Birgel erinnerte, wandte sich mit der raschen Niederkunft einer demutsvollen Geste an den soeben erschienenen Baron de Montesquieu. Cheng zuckte mit den Schultern (nicht ohne Schmerzen), ging in die Halle zurück und setzte sich in der Nähe des Liftes in einen bequemen Ohrensessel. Es dauerte noch etwa zehn Minuten, bis die Leuchttafel versprach, daß sich der Lift wieder in Gang gesetzt hatte. Was dann geschah, war ganz einfach das Übliche. Die Tür öffnete sich, Menschen schrien, Menschen verloren beinahe das Bewußtsein, Menschen rannten, Menschen fühlten sich phantastisch, schließlich waren sie noch am Leben (was ihnen schlagartig zu Bewußtsein kam) und nicht zerschnipselt wie die beiden Kerle da im Aufzug. Cheng brauchte nicht aufzustehen, er sah vom Sessel ganz gut in die Kabine. Na ja, es war eben ziemlich viel Blut verspritzt, und Henry und Chaloupka sahen aus wie Puppen, denen man die Glieder verdreht hatte. Aber von einem Gemetzel konnte keine Rede sein. Beiden war fein säuberlich die Gurgel durchgeschnitten worden, und beide hatten ein Loch in der Brust (nicht bloß einen Stich, sondern eben eine kreisförmige Öffnung, die entsteht, wenn man ein Messer mehrmals um seine Achse drehte), und darin steckten die obligaten Papierröllchen.
    Jemand übergab sich, jemand schrie nach einem Arzt (für seine Frau, die sich gar nicht wohl fühle; daß die beiden im Aufzug keinen Arzt mehr nötig hatten, war auch dem größten Optimisten klar), jemand schlüpfte aus seinem Sakko und krempelte sich die Ärmel auf (wozu auch immer), ein Kind stellte sich vor den Aufzug, sah auf die beiden Leichen, interessiert, aber unberührt, auf den Fußballen wippend, schleckte weiter sein Eis, wurde von einem Securitymenschen umgerannt, dessen Terminatorvisage bleich war wie die Haut eines unbefleckten Freifräuleins und der nun in sein Walkie-Talkie brüllte, als könne er die süßen Jahre seiner Militärzeit nicht vergessen.
    Der von draußen hereingerufene Streifenpolizist, ein junger, unschuldiger Flaneur, kratzte sich am Hinterkopf, als spiele er eine Pantomime und müsse dem Publikum seine Ratlosigkeit vorführen.
    Nun nahm auch er sein Funksprechgerät zur Hand, allerdings brüllte er nicht, sondern informierte mit der Stimme eines ewigen Sängerknaben seine Dienststelle. Minuten später erschienen zwei weitere Uniformierte (eher von der groben Sorte, Fleischhacker in Grün) und nützten die paar Minuten, bis die Leute vom Erkennungsdienst und vom Sicherheitsbüro eintrafen. Geradeso als befänden sie sich in einem mittelmäßigen Lehrstück über xenophobe Polizei, nahmen sie einen Zeitungskolporteur fest, dessen ganzes Vergehen in seiner Anwesenheit bestand (er war tagtäglich in der dem Hotel angeschlossenen Einkaufspassage postiert und hatte sich – neugierig, wie Ausländer als Zeitungsverkäufer nun mal sind – dem Tatort genähert und damit sein Unglück selbst verschuldet).
    Innerhalb der nächsten Viertelstunde erschienen Spurenfahnder und andere gelangweilte Berufstätige, darunter auch Straka und Doktor Hantschk, dem als Gerichtsmediziner die Leichen noch nicht gehörten, der aber gerade mit Straka im nahe gelegenen

Weitere Kostenlose Bücher