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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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schließlich war er ja nicht taub, er war bloß ein wenig schwerhörig (man war froh, ihn aus dem Spital zu haben; seine Fröhlichkeit hatte auf Patienten und Personal gleichermaßen unheimlich gewirkt). Er hinkte etwas stärker als zuvor, aber das war minimal. Und man mag es glauben oder nicht, aber sein Hauptbein befand sich noch immer in ausgezeichneter Verfassung.
    Sein erster Weg führte Cheng ins Hotel Okura. Auch Chaloupka war dort abgestiegen. (Zwischenzeitlich wußte Straka, wer dieser Henry war, und war wenig erbaut angesichts dessen Prominenz. Cheng – den der Oberstleutnant länger im Spital vermutete – wollte man erst später Bescheid geben. Die Angelegenheit war mehr als delikat.)
    Vom Krankenbett aus hatte Cheng Chaloupkas Zimmernummer eruiert. Und weil er sich nach seiner Entlassung aus dem Spital in einer geradezu ausgelassenen Stimmung befand, wollte er einfach mal vorbeischauen und grüß Gott sagen. Vielleicht hatte Straka recht, und irgendwo wartete ein Biedermeierschrank nur darauf, ihm auf den Kopf zu fallen, aber wenn es irgendwie ging, wollte er zuvor noch seine Arbeit erledigt wissen. Und weil er so gut wie gar nichts in der Hand hatte, dachte er, es sei besser, Chaloupka direkt anzuspringen.
    Natürlich bemerkte man Cheng, als er nun durch die Hotellounge ging, hinkend, den einen Arm in Gips, den anderen nur durch seine Aura vertreten, das Gesicht verbogen. Andererseits – gerade an diesem Ort verlieh ihm seine fernöstliche Physiognomie den Geruch des Unverdächtigen. Er sah aus wie ein Geschäftsmann aus Hongkong, der eben bei irgendeiner Sache Pech gehabt hatte. Zudem zeugte seine Zielstrebigkeit davon, daß er hierher gehörte.
    Im vierten Stock stieg er aus dem Lift. Weil er sich nicht mehr an die Zimmernummer Chaloupkas erinnern konnte, kramte er in der Tasche nach seinen Notizen, was – wie man sich vorstellen kann – nicht gerade einfach war. Ein Angestellter kam vorbei und fragte, ob er irgendwie dienlich sein könne. Cheng gab keine Antwort, schlichtweg aus dem Grund, daß der Angestellte in das fast taube Ohr gesprochen und Cheng die Frage also gar nicht gehört hatte. Der Hotelboy, der sich an die Überheblichkeit der Gäste gewöhnt hatte, wie man sich an Darmneurosen gewöhnt, nickte kurz und ging weiter.
    Nachdem er eine Weile herumgesucht hatte, stellte Cheng fest, daß er ein Stockwerk höher mußte, und weil er sich gerade in der Nähe der Nottreppe befand, nahm er diese und schleppte sich die paar Stufen hinauf.
    Als er in den langen Flur der nächsten Etage trat, sah er sie: Henry und Chaloupka, die soeben in den Lift stiegen. Cheng war viel zu weit weg, um sie zu erreichen, weshalb er einfach stehenblieb, um sich zu ärgern. Während er sich ärgerte, sah er, daß eine Frau hinter einer Säule hervorkam und sich ebenfalls auf den Lift zubewegte. Etwas an ihr irritierte Cheng – sie trug einen weißen Overall, der den Glanz irgendeines Kunststoffes besaß, vielleicht auch den von beschichteter Seide. Dazu weiße Lederhandschuhe. Sie hatte ihre langen Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Sie trug eine Skibrille. Das war natürlich recht merkwürdig, aber nicht wirklich irritierend. Erst als sich die Lifttür schloß, wußte Cheng, daß es das lange, schlanke Messer in ihrer behandschuhten Hand gewesen war, das ihn irritiert hatte. Aber da war noch etwas gewesen, eine Merkwürdigkeit, gewissermaßen ein Fehler im Bild, etwas, das er nicht benennen konnte (dafür ging alles zu schnell), warum sich dieses Etwas zunächst einmal in seinem Unterbewußtsein einquartierte.
    Mag sein, daß Cheng hin und wieder zu hektischen Handlungen neigte, aber nun blieb er vollkommen ruhig. Er wußte ja, daß es keinen Sinn hatte, irgend etwas zu unternehmen. Wie das Spiel auch immer aussah, für Henry und Chaloupka war es nun zu Ende; und ihr Ende würde einer dramatischen Note nicht entbehren. Der Lift würde zwischen den Stockwerken stehenbleiben – und genau das tat er auch. Und bevor noch ein Polizist das Hotel betreten würde, wäre die Sache vorbei, Henry und Chaloupka aufgeschlitzt und die Dame in Weiß wohin auch immer verschwunden. (Man kennt ja diese Liftgeschichten – wenn sich nichts Besseres ergibt, verschwinden die Täter einfach über den Schacht, was natürlich so einfach nicht ist, aber mit schöner Regelmäßigkeit gelingt; die sportlichen Qualitäten solcher Akteure sind oft phänomenal. Und der Lift gehört wie Bett und Dusche zu diesen speziellen Plätzen, die

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