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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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keine Handschuhe.«
    »Bei einem toten Politiker ist das anders. Noch dazu einem ausländischen. Da werden nämlich plötzlich alle so pingelig.«
    Er zog das Papier aus Thomsons Brust und rollte es auf.
     
    EIN SEGEN FÜR AUSTRALIEN
     
    »Die Presse wird auf einem politischen Attentat bestehen«, sagte Straka und stopfte das Papier in einen kleinen Plastikbeutel, den er in seine Sakkotasche schob, und wandte sich dem toten Chaloupka zu. Chaloupka sah aus, als hätte er sich mächtig erschreckt, bevor es zu Ende gegangen war, vielleicht bloß über das Messer, vielleicht.
    »No jo«, zitierte Straka Dr. Pfluger, nachdem er den zweiten Zettel gelesen hatte.
     
    EINER NOCH, DANN WIRD ST. KILDA GESCHLOSSEN
     
    »Wer kann da jetzt noch fehlen?« fragte Cheng.
    »Ich hoffe, unsere Dame spricht von Selbstmord.«
    »Kaum.«
    Straka sicherte auch den zweiten Zettel, dann wandte er sich an die geduldig wartenden Männer von der Spurensicherung, die aussahen wie eine Gruppe von Schmetterlingsfängern, die Carl Spitzweg Modell standen.
    »Bitte, meine Herren«, sagte Straka und machte eine großzügige Geste, als eröffne er ein Buffet.

11
    Es war Ende Februar. Tauwetter hatte eingesetzt. Die Straßen erinnerten an diese alten Dokumentarfilme aus dem Wilden Westen, wo die Straßen der Städtchen so verschlammt waren, daß die Leute bis zu den Knöcheln einsanken. Durch was sie da auch immer stampften, es bestand aus bedeutend weniger Hundekot als in Wien.
    Cheng spazierte über den Zentralfriedhof. Einmal im Jahr besuchte er das Grab seiner Eltern. Warum er das tat, war ihm nicht so ganz klar, was sollten ihm diese zwei vergrabenen Leichen schon bedeuten, aus denen das Leben ausgeronnen war wie die Milch aus einer perforierten Milchpackung. Wenn er vor dem einfachen, schwarzen Grabstein stand, dann bemühte er sich um eine Empfindung, die aber nicht gelingen wollte. Und er bemühte sich um Erinnerungen, doch ihm glückten bloß Fotografien. Dabei hatte er sich mit seinen Eltern gut verstanden, er hatte nie unkompliziertere Leute gekannt. Aber das war es eben – sie hatten sich so wenig in sein Leben gedrängt, daß er sie nun nicht zu vermissen brauchte. Sie vermissen zu wollen war eine bloße Kulturleistung.
    Die meisten Eltern drängen sich noch im Tod in das Leben ihrer Kinder, dafür gibt es ja auch Friedhöfe, die sozusagen ein Symbol nie endender Abhängigkeiten darstellen. Noch aus dem Grab heraus befehligen die Eltern ihre Kinder. Ein Leben lang arbeiten sie daran, ihre Erben posthum in die Zange nehmen zu können. Die Erben kompensieren diesen Umstand, indem sie sich in immer größere Grausamkeiten gegen andere und gegen sich selbst flüchten. Das ist das Deprimierende – wie wenig der Tod an unserer Katastrophe etwas ändert. Ein Leben lang phantasiert man über den Tod seiner Eltern, und wenn er dann endlich eintritt, stellen wir fest, daß sich überhaupt nichts geändert hat, daß wir weiterhin die Wünsche unserer Eltern erfüllen, daß wir weiterhin das Gefühl haben, unentwegt beobachtet zu werden, und daß weiterhin unsere einzige Antwort darauf im Entwerfen immer neuer Grausamkeiten besteht. Wir laufen auf die Friedhöfe, diese chronischen Entzündungen der Erdoberfläche, diese Ausschläge, die kein schwefelhaltiger Regen wegzuspülen vermag, in der naiven Hoffnung, wir könnten auf das Grab unserer Eltern spucken (indem wir Kränze des Triumphs und zynische Schleifen auf ihrer letzten Ruhestätte deponieren, indem wir ihnen Marmorplatten oder allerhäßlichste Blumenbeete sozusagen vor die Birne knallen), und müssen dann einsehen, daß sie noch immer nicht verstummt sind, ganz im Gegenteil, daß sie jetzt erst – ihrer physischen Unzulänglichkeiten entledigt – zur wahren Höchstform auflaufen. Und schlußendlich wissen wir natürlich ganz gut, daß es nur eine Möglichkeit gibt, sich von seinen Eltern zu befreien beziehungsweise befreit zu werden. In dieser Hinsicht funktioniert der Tod.
    Wie gesagt, Chengs Eltern waren merkwürdigerweise nie an der vollkommenen Besitznahme ihres Sohnes und einer lebenslänglichen Besitzerhaltung interessiert gewesen, weshalb auch ihr Tod für Cheng bedeutungslos geblieben war und er sich also fragte, ob der Besuch am Grab seiner Eltern eine Art Pflichterfüllung gegenüber der Stadt Wien darstellte, gegenüber der Friedhofsverwaltung, der allgemeinen Stimmung, der abendländischen Kultur oder dem Bürgermeister (in dieser Stadt war jeder Bürger dem

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