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Cheng

Cheng

Titel: Cheng
Autoren: Heinrich Steinfest
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Bürgermeister persönlich verpflichtet – natürlich war es nicht immer einfach herauszubekommen, was der Bürgermeister von jedem Bürger im einzelnen verlangte). Cheng legte die mitgebrachten holländischen Gladiolen neben den Grabstein und schüttelte den Kopf ob einer solcher Geste. Schnittblumen, das war wirklich das Letzte, im Grunde sinnloser Mord.
    Das vergangene halbe Jahr war sehr ruhig gewesen. Er hatte keine Fälle mehr übernommen, war ja noch immer rekonvaleszent. Der Bruch wollte nicht so richtig verheilen, weil man die Schraube schief hineingedreht hatte oder so ähnlich. Oft hatte er Schmerzen, wenn er bloß eine Kaffeetasse hob. Dafür spürte er sein schwächeres Bein nicht mehr, was nichts daran änderte, daß er es nachschleppen mußte. Seinem unsichtbaren linken Arm ging es großartig, auch seinem Hauptfuß, und das Hörgerät in seinem Ohr sah ganz passabel aus (bloß half es Cheng nicht, besser zu hören). Dumm war nur, daß seine Nebenhöhlenentzündung eine chronische Dimension angenommen hatte und die dadurch ausgelösten Kopf- und Zahnschmerzen Cheng ein wenig nervös machten (hin und wieder schlich sich sogar eine kleine Depression ein, die er jedoch mit einer Flasche Rotwein erfolgreich hinunterzuspülen vermochte).
    Der Mord an H.P. Thomson und Erwin Chaloupka war unaufgeklärt geblieben. Man war aber mit den entsandten australischen Beamten einig geworden, daß die beiden sich gar nicht gekannt hatten, rein zufällig in denselben Lift gestiegen waren, um dort irgendeinem irren Mörder in die Hände zu fallen. Ein politisches Attentat oder einen privaten Racheakt schloß man aus. Ein Typ, der wahllos Leute abschlachtete, das war fraglos die eleganteste Lösung. Strakas St.-Kilda-Spur wurde von Hofrat Preisinger mit dem Hinweis vom Tisch gefegt, daß der Polizeipräsident eine Beruhigung der Situation wünsche.
    Die Ankündigung eines letzten Mordes hatte sich nicht erfüllt, und Cheng begann langsam, die Sache zu vergessen und sich damit abzufinden, daß er über einen fremden Fuß gestolpert und mit dem Gesicht in einer dunklen, öligen Lache gelandet war, dabei die eine oder andere Verletzung davongetragen hatte und akzeptieren mußte, daß da weit und breit kein Fuß mehr zu sehen war, dem er dafür die Schuld geben konnte, ganz abgesehen von dem Hirn, das so einen Fuß steuerte.
    Als er nun ziellos zwischen den Gräbern herumspazierte, begann es wieder zu schneien. Er stellte den Mantelkragen in die Höhe und spannte ein Stirnband um seinen Schädel. In seinen Nebenhöhlen stockte es, und ob das Knistern in seinem Ohr von seinem Hörgerät stammte, war eine gute Frage. Der Himmel war grau und schmierig wie auf einem Constable. Er mochte diese Stimmung. Er mochte diese Schwermut, die bloß ein Bild war.
    Dann sah er die Frau. Er war sich unklar darüber, warum sie ihm aufgefallen war. Vielleicht weil sie relativ jung schien, etwa dreißigjährig, und einen cremefarbenen Blazermantel trug, während die anderen Friedhofsbesucher, wie an Wochentagen üblich, zwei Weltkriege überlebt hatten und in dunkle, schwere Mäntel gehüllt waren. Auch war sie die einzige ohne Kopfbedeckung. Ihr braunes Haar fiel glatt über die Schulter. Vielleicht irritierte ihn, daß sie trotz des spätwinterlichen Breis, der die Wege bedeckte, helle, gelöcherte Lederpumps trug. Vielleicht gefiel sie ihm ganz einfach. Nein, das war es nicht. Es war ihre rechte Hand, die ihn irritierte. Es war der fehlende kleine Finger. Was ihn verstörte, war allerdings nicht der bloße Umstand eines absenten Körperteils (wie sollte auch gerade ihn Derartiges erschüttern), sondern das Gefühl, durch diesen fehlenden Finger an etwas sehr Wesentliches erinnert zu werden.
    Er setzte sich auf eine Bank und starrte auf die Hand der Frau. Cheng fühlte sich an etwas erinnert, das als Erinnerung nicht wirklich existierte, sondern erst durch das Bild dieses fehlenden Fingers nachträglich entstand, ein Finger, dessen körperlose Präsenz mehr als bloß drei Fingerknochen einnahm. Aber etwas stimmte nicht. Etwas war anders gewesen, damals im Okura.
    Cheng dachte Attrappe, und er dachte Handschuh. Vor seinem geistigen Auge sah er einen weißen Lederhandschuh. Das Leder spannte sich, da die Finger einen Griff umfaßt hatten. Nicht alle Finger. Der Kleinste hing schlaff herunter, gleich einem Ballon, dem jegliche Luft entwichen war. Der Griff gehörte zu einem Messer, auf dessen Klinge sich die entsetzten Gesichter zweier Männer
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