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Cheng

Cheng

Titel: Cheng
Autoren: Heinrich Steinfest
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spiegelten.
    Das war es gewesen, was er damals unbewußt wahrgenommen hatte, eben nicht bloß das Messer in der Hand der Frau, sondern diesen Finger, der herunterhing, wie Handschuhfinger das zu tun pflegen, in denen kein Finger steckt. Das war sie also. Als er damals über dem Abgrund baumelte, hatte er sich eingebildet, von ihren Lippen lesen zu können, und dennoch ihr Gesicht nicht wahrgenommen, und im Hotel hatte sie eine Skibrille aufgehabt (auch jetzt sah er ihr Gesicht nicht). Aber er war überzeugt, daß der fehlende Finger derselbe gewesen war, der im Handschuh der Liftmörderin gesteckt beziehungsweise nicht gesteckt hatte. Er besaß ein gutes Gefühl für fehlende Körperteile. Daß ihre Größe stimmte, ihre Figur, die Haare, beachtete er nicht einmal. Er war auf diesen Finger konzentriert und auf die plötzliche Hoffnung, die Sache nun doch noch zu einem Ende zu bringen, ganz gleich wie teuer ihn das kommen würde.
    Der Schneefall wurde heftiger, und ein Sturm setzte ein. Die Leute baten ihre Toten um Verzeihung (die nie und nimmer irgend etwas verziehen) und strebten dem Ausgang zu. Auch die Frau in ihrem cremefarbenen Mantel, die – wie Cheng jetzt erst erkannte – eine dunkle Brille trug, verließ das Grab, vor dem sie bewegungslos und ohne ein Zeichen der Emotion gestanden hatte. Cheng wandte sich zur Seite. Es würde nicht einfach sein, dieser Frau zu folgen, schließlich war er eines ihrer Opfer gewesen.
    Als sie in den Hauptweg eingebogen war, stand Cheng von der Bank auf und besah sich das Grab. Es war einfach und schmucklos wie das seiner Eltern. Die Inschrift auf dem Granit begnügte sich mit der Mitteilung, daß hier eine Maria Baumann lag, gelebt 1942-1990. Cheng zündete sich eine Zigarette an, tat einen unbefriedigenden Zug, ließ sie fallen und trat sie in den Schlamm hinein. Er schob die eine Hand tief in seine Manteltasche und vergrub sie in dem wärmedämmenden Papier- und Stanniolabfall, der dort lagerte. Der Schnee schlug ihm hart ins Gesicht und erinnerte ihn an den verrückten Winter des letzten Jahres und daß sie den Altbürgermeister und seine Gattin noch immer nicht gefunden hatten.
    Als er auf den Weg trat, der zum Ausgang führte, konnte er den hellen Mantel nicht sehen. Er hatte ihr nicht einmal eine halbe Minute Vorsprung gegeben, es war ganz unmöglich, daß sie schon durch das Tor gekommen war. Cheng wußte, daß es völlig sinnlos war, nun wie ein Verrückter ziellos durch den riesigen Zentralfriedhof zu humpeln, aber eine Viertelstunde lang tat er es dennoch, sich eingestehend, daß er ja genau das war: ein Verrückter. Zwischen dem Grab des Komponisten Ernst von Ravensberg (der die Zwölftonoper Die Unheiligen verfaßt hatte) und dem des Weltergewichtschampions im Boxen der dreißiger Jahre Josef »Der Steinmetz« Haidinger brach Cheng zusammen. Unter den Kleiderschichten dampfte sein verschwitzter Körper, und Cheng befürchtete, daß die Implosionen in seinem Schädel zu einer vollständigen Taubheit führen würden. Als er nun so dalag, zwischen Ravensberg und Haidinger, sozusagen zwischen den Polen Wienerischer Hochkultur, da beruhigte er sich langsam, sein Körper zog sich in sein Inneres zurück, der Kanonendonner im Kopf verlor sich, und eine angenehme Stille und Wärme begannen ihn zu umschließen.
    Es war wohl die Vorstellung, daß man ihn nach Stunden vielleicht finden und in ein Spital bringen würde, mit Erfrierungen oder in vollkommener Taubheit oder was auch immer, und daß dann wieder Straka an seinem Krankenbett stehen würde und daß die Sache anfangen würde, nur noch lächerlich, nur noch peinlich zu sein, banal durch Wiederholung, geradezu lästig. Um solches zu vermeiden, richtete sich Cheng auf, schlug den Schnee vom Mantel und verließ in einem vernünftigen Tempo den Friedhof.
    Am nächsten Tag (er fühlte sich so gesund wie schon lange nicht mehr) rief er Straka an und bat ihn, den Mädchennamen jener vor einigen Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommenen geschiedenen Frau Chaloupka festzustellen. Er hatte so eine Idee, nicht mehr. Straka riet Cheng, nicht schon wieder damit anzufangen, die Sache sei, obwohl nicht geklärt, so doch erledigt und sicher ungeeignet, um daraus ein Lebenswerk zu speisen.
    Dennoch rief er tags darauf Cheng an und erklärte, die Maria Chaloupka habe Baumann geheißen. Sie habe den Mädchennamen nach der Scheidung zwar nicht wieder angenommen, war aber aus irgendeinem Grund – der wie vieles in den Tiefen
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