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Cheng

Cheng

Titel: Cheng
Autoren: Heinrich Steinfest
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der österreichischen Bürokratie verschollen war, die kein Lichtstrahl je erreicht – unter ihrem Mädchennamen begraben worden. Die Tochter heiße übrigens auch Maria. Wo sich die aber befinde, sei derzeit einfach nicht zu eruieren.
    »Ausgezeichnet«, sagte Cheng.
    »Ich hoffe, Sie verfallen nicht auf die Idee, das Grab aufzubrechen. Ich habe keine Lust, Sie wegen Leichenschänderei aus dem Gefängnis zu boxen.«
    »Keine Sorge, Herr Oberstleutnant, wenn eine Exhumierung nötig ist, melde ich mich vorher bei Ihnen.«
    »Man dankt.«
    »Wollen Sie gar nicht wissen, was ich in der Hand habe?«
    »Lieber nicht. Ich könnte auf die Idee kommen, mir Sorgen um Sie zu machen. Was andererseits unnötig wäre, denn in demselben Maße, in dem Sie verletzungsanfällig sind, sind Sie auch nicht umzubringen.«
    »Na gut. Ich sehe mal zu, daß ich Ihnen etwas Handfestes liefern kann. Ich meine, damit Sie vor Ihrem Hofrat Preisinger eine gute Figur machen.«
    »Das wäre nett. Und passen Sie auf sich auf.«
    »Ich habe ja Lauscher.«
    Straka stöhnte.

12
    Cheng rief sämtliche dreiundvierzig im Telefonbuch verzeichneten Chaloupkas an, aber die wenigen, die davon wußten und es auch zugaben, mit Erwin Chaloupka verwandt gewesen zu sein, konnten oder wollten nichts sagen. Daß er eine Tochter gehabt hatte, schien überhaupt unbekannt zu sein. Vor allem die beiden Marias unter den Chaloupkas zeigten sich empört über die Namensgleichheit mit der Tochter und der Frau eines Mordopfers. (Denn gerade in den kriminalistischen Köpfen der Wiener haftete auch einem Mordopfer etwas Unanständiges, ja sogar Verbrecherisches an. Jemand, der ermordet worden war, hatte wohl auf die eine oder andere Weise Dreck am Stecken gehabt; ein Ermordeter war bereits durch die offensichtliche Nähe zu seinem Mörder verdächtig. Man wollte sich nicht vorstellen, daß jemand unschuldig zum Handkuß kommen konnte. Sosehr die Wiener als Kollektiv die Unschuld – eine geradezu heilige Unschuld – für sich in Anspruch nahmen, so verdächtig war ihnen der einzelne. Ein Mordopfer wurde so gut wie immer schuldig gesprochen.
    Dabei gingen die Wiener in ihrer Sichtweise eines intimen Verhältnisses zwischen Täter und Opfer, durch das beide sich gleichermaßen schuldig machen, so weit zu behaupten, daß die ermordeten Juden, ganz zu schweigen von Berufs- und Gewohnheitsverbrechern wie Bolschewisten und Zigeunern, mit ihren Mördern, den Nazis, gewissermaßen verbandelt gewesen wären. Der Jude und der Nazi – für den Wiener sind das zwei Strizzis, von denen halt einer schneller zugeschlagen hat. Der Wiener ist übrigens der Überzeugung, daß man als Wiener nicht gleichzeitig ein Nazi sein kann, leidenschaftlicher Antisemit ja, katholischer Faschist ja, Demokrat ja, aber ein Nazi, das ist immer ein Deutscher.)
    Cheng versuchte es nun mit den Baumanns, von denen es nicht wenige gab. Er überlegte, daß es, wenn die Mutter ihrer Tochter den eigenen Vornamen gegeben hatte (eigentlich eine Spezialität der Väter), nicht ganz unwahrscheinlich war, daß auch die Großmutter Maria hieß. Also telefonierte er die zehn Maria Baumanns an. Die Baumanns waren so auskunftsfreudig wie die Chaloupkas, und die Möglichkeit, daß jemand etwas wußte, ja tatsächlich gering. Eine Dame war Cheng allerdings aufgefallen.
    Wie die anderen Baumanns hatte sie erklärt, sie habe keine Tochter mit dem Namen Maria, und ein Chaloupka sei ihr noch nie begegnet. Aber es war etwas Merkwürdiges in ihrer Stimme gewesen, so als ob sie einen Text aufsage. Sie hatte nicht nervös gewirkt, aber sehr bestimmt darauf bestanden, nicht weiter belästigt zu werden. Nun, das hatten die anderen auch getan, aber das Kontrollierte, Künstliche in ihrer Stimme (auffällig wie ein Lockruf, dachte er kurz) ging ihm nicht aus dem Kopf. Vielleicht auch nur, weil er nichts Besseres zur Hand hatte. Er beschloß, die alte Dame zu besuchen; daß sie alt war, das hoffte er.
    Sie wohnte in einem Gartenhaus am Rande des Hörndlwaldes, der hinter dem Pflegeheim Lainz liegt. Das zweistöckige Gebäude sah vernachlässigt aus, große Teile der Fassade waren abgebröckelt, auf den Fensterscheiben klebte der Dreck von Jahren, Dachziegel fehlten. Im Garten entfaltete sich ungebremst eine maßlose Natur und überwucherte einige Steinfiguren, die aussahen, als hätte sie jemand in den letzten Kriegstagen aus Schönbrunn hierher verfrachtet. Dem verrosteten Drahtzaun war kaum zuzutrauen, daß er den nächsten Sturm
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