Cherryblossom - Die Zeitwandler (German Edition)
Boden. Eilig drehte ich ab und rannte über den Marmorflur die prächtige Treppe hinauf. Meine Beine trugen mich von ganz allein, ich flog in Richtung der vier Wände, die mir in den letzten vierundzwanzig Stunden Sicherheit geboten hatten. Flüchtend stürzte ich in mein Zimmer und warf die Tür hinter mir so heftig ins Schloss, dass von der Erschütterung ein Gemälde von der Wand rutschte und polternd auf dem Boden aufschlug. Ich blieb stehen und sah auf das Bild, welches jetzt angelehnt an der Wand auf dem Boden stand.
Blinzelnd trat ich näher und setzte mich im Schneidersitz vor das riesige Gemälde. Es war ein Portrait meiner Mutter. Meine goldenen Augen sahen mir entgegen, ihr weiches Gesicht, eingerahmt von dunkelblondem welligem Haar. Ein liebliches Lächeln auf ihren Lippen, kleine Grübchen, die ich auch hatte. Es war wunderschön. Meine Mutter war wunderschön. Sie musste auf diesem Bild ungefähr in meinem Alter gewesen sein. Ich versank in dieses Gemälde, streckte meine Hände nach ihm aus und zog es zu mir heran. Ein Poltern. Etwas war aus dem Rahmen gerutscht und auf den Boden gefallen. Ich schob das Bild zur Seite und sah nach. Es war ein Buch. Meine Hände griffen wie von selbst danach. Es war klein, in dunkles Leder gebunden, mit eingeprägten Kirschblüten auf der Vorderseite. Zögernd schlug ich es auf. Meine Finger strichen über das vergilbte Papier und ich begann, die altenglische Schrift zu entziffern. Die ersten Seiten enthielten Aufzeichnungen über Heilpflanzen mit filigranen naturgetreuen Kohlezeichnungen. Ich blätterte weiter, vor und zurück. Auf der letzten Seite stand ein Name – Valerie! Mein Gott, konnte das sein? War es das Formelbuch meiner Vorfahren? Ich schlug es in der Mitte auf. Seite dreiundachtzig. Die Überschrift des Kapitels lautete Die Beherrschung des Windes . Wow! Jetzt durchzuckte blitzartig eine Zahl meinen Geist, ließ mich flach atmen. Siebenundneunzig! – Siebenundneunzig. Meine Hände blätterten ohne mein Zutun vor, bis zu der Seitenzahl, die mich beherrschte und in mir schrie. Meine Augen weiteten sich und ich las: Die Seelen binden. Die Kunst, zwei Geschöpfe miteinander zu verknüpfen und ein Band zu schaffen, das es ermöglicht, die existenziellen Regungen des anderen mitzuempfinden. So können über große Entfernungen starke Emotionen aufgefangen werden, um zum Beispiel den anderen vor einer nahenden Gefahr zu warnen oder den anderen zu Hilfe zu rufen.
Ich hörte Olivias Stimme in meiner Erinnerung. Wenn Ben tot wäre, wüsste ich das. Wir haben eine Verbindung geknüpft. Ich würde spüren, wenn er stirbt. Und er würde es spüren, wenn ich sterbe.
Wenn das so war, hätte er zumindest, was Olivia anging, absolute Sicherheit gehabt, ob sie lebte oder nicht. Warum tat er so, als wüsste er von nichts?
Es klopfte leise an meiner Tür. Ich zuckte zusammen und klappte das Buch zu. Hastig nahm ich das Portrait meiner Mutter und schob das Buch zurück in den hinteren Teil des Rahmens. Das Bild schob ich an die Wand und tat, als wäre ich versunken in seinen Farben und das Antlitz meiner Mutter. Ben steckte seinen Kopf vorsichtig in das Zimmer und ich sah ihn an. »Ich habe geklopft.« Er hob fragend die Augenbrauen.
Ich sah wieder wie hypnotisiert auf das Gemälde.
»Dies war das Zimmer deiner Mutter«, sagte er leise, trat schleichend neben mich und sank auf die Knie.
»Wo sind wir hier?«, fragte ich eindringlich und angespannt. Ich bebte innerlich, wollte mir nichts anmerken lassen.
»Wir sind hier in einem Schloss in Churchill. In der Nähe von Cornwall, dem Geburtsort deiner Mutter.« Ben beobachtete mich von der Seite, ich konnte seine Blicke spüren. »Hat sie hier gelebt?« Ich sah ihm ins Gesicht und unterdrückte meinen Zorn darüber, dass er viel mehr zu wissen schien als ich.
»Eine kurze Zeit, glaube ich. Aber ich weiß, dass dein Vater veranlasst hat, dieses Gemälde hier aufzuhängen. Er muss sie wirklich geliebt haben.«
»Vielleicht«, presste ich hervor und rappelte mich mühsam vom Boden auf. Ich schlenderte zum Bett und rollte mich darauf zusammen. Ben kam mir vorsichtig nach und setzte sich auf die Bettkante. »Wir müssen reden«, sagte er bestimmt. Müde verzog ich das Gesicht. Der machte mir Spaß, wozu reden, wenn man doch nicht vorhatte, sich alles zu sagen. Also holte ich aus: »Worüber denn reden ? Darüber, dass wir zwangsverheiratet werden und es eigentlich nicht wollen? Ich dachte, so etwas wäre langsam, aber
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