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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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Engelsfigur lassen, die Adam und Eva mit gestrenger Miene das Weite wies.
    Vor drei Monaten hatte hinter dieser Tür Matthias’ Leiche gelegen, so wie jetzt die von Heinrich.
    »Komm!« Richard nahm sanft ihren Arm und zog sie mit sich, nachdem Johannes die Tür geöffnet hatte und auf ihr Eintreten wartete.
    Weihrauchduft umfing sie, als sie die stille, von buntem Licht durchflutete Kapelle betrat. Katharina hielt den Blick gesenkt, um den Anblick der Glasfenster zu vermeiden, die eine weitere Engelsgestalt zeigten.
    Die Fliesen des Bodens waren allesamt gesprungen, bemerkte sie. Das war ihr beim ersten Mal nicht aufgefallen.
    »Frau Jacob?« Bruder Johannes’ Stimme drang in ihr Bewusstsein, und endlich sah sie auf. Der Mönch zeigte auf eine Bahre, die man seitlich an einer Wand aufgestellt hatte.
    Katharinas Kehle schnürte sich zu. Ein weißes Tuch. Darunter ein unförmiger Umriss. Matthias! Ihre Knie wollten unter ihr wegsacken, aber sie zwang sich stehenzubleiben. Richards Hand legte sich um ihren Arm. Es war nicht die zärtliche Geste, nach der sie sich sehnte, sondern ein fester, Halt gebender Griff. Sie gestattete sich, diesem Halt einen kurzen, kostbaren Moment nachzugeben, dann machte sie sich los und trat einen Schritt vor.
    Ihr Geist hatte sie genarrt. Die Umrisse unter dem Laken hattennichts Unförmiges, sondern zeichneten exakt die Kontur eines menschlichen Körpers nach.
    »Keine Flügel diesmal.« Als Johannes die Worte wiederholte, die er schon vor dem Katharinenkloster zu ihr gesagt hatte, klang er hohl und krächzend.
    »Katharina, bist du sicher ...«, setzte Richard an, aber Katharina brachte ihn zum Schweigen, indem sie dicht vor den Toten trat.
    Kurz warf sie einen Seitenblick auf eine weitere Bahre, die bis auf ein ordentlich zusammengefaltetes Leichentuch leer war und auf der offenbar Dagmar gelegen hatte.
    Langsam richtete Katharina den Blick wieder auf den Toten unter seinem weißen Tuch. Und plötzlich konnte sie sich nicht mehr rühren.
    »Nehmt das Tuch fort«, bat Richard Bruder Johannes.
    Der Mönch kam seiner Bitte nach, indem er an einem Zipfel zog. Das Tuch rutschte mit einem leisen Rauschen zu Boden, wo es sich in große Falten legte.
    Wie gebannt starrte Katharina auf den Toten.
    In der Ruine hatte sie nur einen einzigen, kurzen Blick auf ihn geworfen, bevor sie zurückgetaumelt war und sich erfüllt von Übelkeit abgewandt hatte. Jetzt zwang sie sich, Heinrichs gesamte Gestalt mit den Blicken abzutasten. Seine mageren, blassen Glieder, die Finger, die von Kälte und Entbehrung zu gichtigen Krallen verkrümmt waren. Das schief zusammengewachsene Schlüsselbein, das unter seinen schmutzigen Kleidern wie ein Fremdkörper einen Buckel bildete. Die eingefallenen Wangen mit den ungepflegten Bartstoppeln, die von dunkel getrocknetem Blut verklebt waren. Und die fürchterlichen leeren Augenhöhlen, deren Hintergrund von einer zähen, milchigen Substanz überzogen war.
    Katharina unterdrückte ein Würgen und zwang sich, eine distanzierte Haltung anzunehmen. Sie musste so tun, als kenne sie diesen Mann nicht. Sie musste ihren Verstand nutzen. Nicht ihr Gefühl.
    Reiß dich zusammen! , mahnte sie sich und ließ den Blick an der Leiche nach unten wandern.
    Keine Dolchwunde.
    Bis auf die ausgestochenen Augen war Heinrichs Körper völlig unversehrt.
    Richards Hand legte sich unter ihre Achsel, und da erst bemerkte sie, dass sie zu schwanken begonnen hatte.
    »An ausgestochenen Augen stirbt man nicht«, flüsterte sie.
    »Woher wollt Ihr das wissen?« Durch das Rauschen des Blutes in ihren Ohren klang Johannes’ Stimme wie die aus einem Grab.
    »Mein Stiefvater war Henker«, sagte sie leise. Sie wusste viele solcher Dinge – nicht, weil er es ihr erzählt hatte, sondern weil sie von dem Augenblick an, als sie erfahren hatte, dass ihre Mutter ihn geheiratet hatte, wie ein Schwamm jedes grausige Detail einer Hinrichtung aufgesogen hatte. Ausschließlich aus den Wortfetzen, die sie auf der Straße aufgeschnappt hatte.
    ... hast du gehört, der Augspurger hat der alten Vettel aus der Webergasse die Augen ausgestochen ...
    ... es heißt, sie habe keinen einzigen Ton von sich gegeben, als der glühende Dolch ihr zwischen die Lider gefahren ist ...
    Das war einer der Gründe, warum Katharina Bertram Augspurger stets gehasst hatte – und ihre Mutter gleich mit, weil sie ihn geheiratet hatte.
    Richard hielt sie weiterhin fest. Eine Weile lang betrachtete er aufmerksam Heinrichs gesamten

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