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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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hatte Heinrich auch eine Stichwunde am Bauch?«
    »Stichwunde?«
    »Dagmar wurde durch einen Dolchstich in den Unterleib ermordet. Du hast gesagt, sie starben auf die gleiche Weise, da dachte ich ...«
    »Nein!«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich meinte die Augen!«
    Da begriff Richard. »Dagmar starb nicht an den ausgestochenen Augen.«
    Katharina versuchte sich Heinrichs Leiche so gut es ging in Erinnerung zu rufen. Ihr war plötzlich schlecht, aber sie ignorierte diesen Hinweis ihres Körpers, dass er es leid war, sich mit solcherlei grausamen Dingen zu beschäftigen. Sie senkte die Lider, um sich Heinrichs Anblick besser vorstellen zu können. Den gegen eine Wand gelehnt dasitzenden Körper, den Kopf, der nach hinten gesunken war, als wolle der Leichnam noch im Tode die Sterne betrachten. Die furchtbaren blutigen Spuren quer über seine Wangen. Das alles sah sie mit eisiger Klarheit vor sich. Doch sie vermochte nicht, sich das Bild von seinem Leib vor Augen zu rufen. War da Blut an seiner schmutzigen Kleidung gewesen? Sie wusste es einfach nicht.
    Sie verspürte das dringende Bedürfnis, das alles weit von sich zu schieben, sich zu erlauben, dass Richard sie in die Arme zog und festhielt, so dass sie nichts mehr mit all den Dingen, die außerhalb dieses Kontors vor sich gingen, zu schaffen haben würde. Doch sie war vernünftig genug zu wissen, dass sie die Kälte und das Leben dort draußen nicht von sich fernhalten können würde. Heinrichs Stimme klang in ihr nach, die Art, wie er sie begrüßt hatte, wenn sie zu ihm gekommen war.
    »Katharina«, hatte er stets gegrinst. »Kommste, um Heinrich zu helfen?«
    Und Katharina hatte stets geantwortet: »Ja, Heinrich. Ich werde dir helfen, das habe ich dir versprochen, oder etwa nicht?«
    Jetzt sah sie Richard an. »Ich weiß nicht, ob Heinrich auch eine Stichwunde hatte«, gab sie zu.
    Richard antwortete nicht sofort. Schwer lag sein Blick auf ihrem Gesicht. »Und du willst gehen und nachsehen«, sagte er endlich.
    Es war ein gutes Gefühl, dass er wusste, was sie dachte.
    Katharina zögerte. Doch dann nickte sie.
    Zu ihrer grenzenlosen Erleichterung zögerte Richard nicht, sie auf diesem Weg zu begleiten. Und da sie beide sich noch daran erinnerten, dass unbekannte Leichen üblicherweise ins Lochgefängnis gebracht wurden und dort blieben, bis jemand kam, der sie vermisste und ihre Identität feststellen konnte, begaben sie sich zunächst zum Rathaus und läuteten beim Lochwirt, dem Aufseher des städtischen Untersuchungsgefängnisses. Von ihm erfuhren sie, dass man Heinrichs Leiche ins Predigerkloster an der Burgstraße gebracht hatte.
    Als sie kurze Zeit später gemeinsam an der weißgetünchten Mauer des Predigerklosters entlanggingen und auf die breite Einfahrt zuhielten, die auf den Hof dahinter führte, hatte Katharina ein eigenartiges Gefühl. Es war, als habe eine göttliche Hand die Zeit zurückgedreht und zwinge sie, die Augenblicke noch einmal zu erleben, unter denen sie bereits im August gelitten hatte.
    Richard ging neben ihr und warf ihr ab und an besorgte Blicke zu. Sie konnte spüren, wie gern er ihr die Hand gereicht und ihr dadurch Halt gegeben hätte. Doch das war undenkbar, denn es schickte sich nicht, derartige Zärtlichkeiten auf offener Straße auszutauschen. Nur Huren taten das.
    Katharina schluckte.
    Es ist nicht Matthias! , hämmerte sie sich immer und immer wieder ein. Nicht Matthias, der dort drinnen liegt. Matthias ist längst begraben und bei Gott.
    Doch sie konnte sich nur schwer vom Wahrheitsgehalt dieser Worte überzeugen. Ihre Hände hatten sich in die Falten ihres Rockes gekrampft, und sie spürte die Fäden unter ihren Fingerspitzen. Einer ihrer Nägel war ein winziges Stück eingerissen und hing an einer Faser fest. An dieses eher unangenehme Gefühl klammerte sie sich, konzentrierte sich darauf, als sei es ein Licht in dunkler Nacht, während sie auf das Klostertor zuschritt.
    »Du musst das nicht tun«, versuchte Richard ein letztes Mal, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Aber sie schüttelte mit viel mehr Entschlossenheit den Kopf, als sie tatsächlich empfand. »Ich bin es ihm schuldig!«, sagte sie nur.
    Richard seufzte.
    Er deutete auf das Klostertor. Seite an Seite mit Katharina schritt er hindurch und blieb mitten auf dem Hof stehen.
    Obwohl die Non, das Nachmittagsgebet, kurz bevorstand, herrschte hier reges Treiben. Zwei jüngere Mönche, von denen Katharina einen als Guillelmus erkannte, redeten mit einem

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