Cherubim
gekehrt. Was für eine Ironie! Da hatte sie ihn wochenlang gemieden, aus Angst, er könne die melancholia zurückbringen, und jetzt, da sie wieder darunter litt, musste sie feststellen, dass genau das Gegenteil eintrat, dass er sie aus ihrem Kopf verbannte.
Katharina lächelte ebenfalls, schwieg jedoch. Jedes Wort, das sie geäußert hätte, hätte unzüchtig atemlos geklungen, fürchtete sie.
Dann, nach einer halben Ewigkeit, die Katharina gleichzeitig viel zu kurz vorkam, trat Richard einen Schritt zurück. Ihr Körper schrie auf, wollte seine Berührung nicht missen, wollte zurück in seine Arme kehren. Aber sie beherrschte sich. Mit gemessenen Bewegungen strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und hoffte, dass Richard nicht sah, wie sehr sie zitterte.
»Das ist gut«, sagte sie endlich. In ihren eigenen Ohren klang es noch immer wie ein Keuchen.
Richard straffte die Schultern. »Aber ich fürchte, d... Ihr seid nicht gekommen, um von mir geküsst zu werden«, sagte er. Plötzlich war die Befangenheit wieder da.
Katharina wusste, dass es nun an ihr war, zu entscheiden, wie weit sie gehen wollte. »War es nicht«, gab sie zurück, und dann machte sie sich selbst Mut und fügte hinzu: »Ich bin zu dir gekommen, weil ich über Heinrich sprechen möchte.« Sie betonte das Wort dir , und in Richards Augen leuchtete es auf. Dennoch näherte er sich ihr nicht wieder, sondern sagte ruhig: »Heinrich ... er ...«
Katharina hob die Hand und brachte ihn damit zum Verstummen. »Scht!«, machte sie. Sie verspürte ein unerträgliches Gefühl von Zwiespältigkeit. Zum einen wollte sie sich wieder an Richard kuscheln, wollte erneut geküsst werden. Aber gleichzeitig war da auch das Wissen um Heinrich und Dagmar, um diesen Mörder, den sie vielleicht zur Strecke bringen konnten, wenn es ihnen nur gelang, sich zu beherrschen. Sich zu konzentrieren, vor allem.
Sie legte die eine Hand in die andere und drückte sie so fest, wie sie konnte.
Richard sah es. Behutsam griff er nach ihren Fingern, löste sie voneinander. Wieder durchfuhr es Katharina wie ein Hieb. Ein angenehmer Hieb, von dem sie gern mehrere gehabt hätte.
Endlich schien Richard bewusst zu werden, dass sie noch immer standen. Er zog Katharina zu einem Sofa, das sich in einer Ecke des Kontors befand, und drückte sie darauf nieder. Sorgsam darauf bedacht, einen gewissen Abstand zu wahren, setzte er sich neben sie, allerdings ohne dabei ihre Hände loszulassen. Katharina unterdrückte ein Kichern. Plötzlich fühlte sie sich leicht und unbeschwert wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Hatte sie sich zu Beginn in Egberts Gegenwart auch so wohl gefühlt?
Der Gedanke an ihren Mann schoss durch ihren Kopf, ohne dass sie ihn bewusst hervorgerufen hatte. Und abrupt versteifte sie sich.
Richard interpretierte ihre Bewegungen falsch. Rasch zog er die Hände zurück. »Was ...« Erschrocken sah er Katharina an.
Sie hätte sich ohrfeigen können. »Es ist nichts ... ich ...« Hilflos brach sie ab, und weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte, fasste sie einfach nach Richards Händen und hielt sie nun ihrerseits fest.
Richard entspannte sich ein wenig. Aufmerksam forschte er in Katharinas Gesicht nach ihren Regungen.
Der Zauber war nun jedoch gebrochen. Mit Gewalt musste Katharina sich zwingen, daran zu denken, weshalb sie eigentlich hier war. »Heinrich ...«, murmelte sie.
Richard nickte, aber er tat es halbherzig. »Ihr ... du«, lächelnd senkte er den Blick, hob ihn aber gleich darauf wieder. »Du liebe Güte, ist das schwierig!« Er atmete einmal tief durch. »Also: Du! Du glaubst, dass der Mörder von Heinrich und Dagmar ein weiteres Mal zuschlagen könnte?«
Katharina zuckte die Achseln. Sie spürte, wie Richard sich ihr entziehen wollte, aber sie hielt ihn fest. Wenn sie schon über diese furchtbaren Dinge reden mussten, dann konnten sie es genauso gut auch händchenhaltend tun! »Ich weiß es nicht«, gestand sie. »Aber diese ausgestochenen Augen! Ich meine: Warum macht jemand so etwas? Der Engelmörder damals hatte einen Grund, und ich glaube und fürchte, dass wir es hier wieder mit jemandem zu tun haben, der ...« Sie hielt inne. Sie hatte keine Ahnung, mit wem sie es hier zu tunhatten, und allein die Vorstellung, sich in einen solch kranken Menschen hineinzuversetzen, erfüllte sie mit Schrecken. »Sie sind beide auf die gleiche Weise umgebracht worden«, fügte sie lahm hinzu.
Richards Augenbrauen hoben sich. »Auf die gleiche Weise? Dann
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