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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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meinst du?«
    Lukas hatte den Ärmel seines Mantels zwischen die Finger gezogen und über die Nase gelegt. »Dieser Gestank! Es riecht, als würden hier irgendwo ein paar tote Ratten verwesen.«
    »Oh.« Der Doktor blieb stehen. Er sah betroffen aus. »Wirklich?«
    Verwundert sah Lukas ihn an. »Ihr müsst es doch riechen!«
    Aber da zog der Doktor den Hut vom Kopf. Seine Haare waren länger als damals, bevor der Überfall passiert war. In unordentlichen Wellen hingen sie ihm um die hageren Wangen. Der Doktor hob eine Hand und schob die Strähnen fort. Er enthüllte dabei eine Art Narbe.
    Lukas blieb die Spucke weg. »Herrgott!«, entfuhr es ihm.
    Dicht unter dem Haaransatz, genau in der Mitte der Stirn, befand sich der Überrest der Verletzung, die die Vaganten dem Doktor beigebracht hatten. Es war eine flache Vertiefung im Fleisch, eine Delle, unter der die Knochen des Schädels wie zersplittert wirkten. Spontan musste Lukas an die weiche Stelle auf dem Scheitel von neugeborenen Kindern denken.
    »Das ist das Geschenk, das die Kerle mir gemacht haben«, sagte der Doktor leise und ließ die Haare wieder an Ort und Stelle fallen. »Ich glaube, dadurch wurde mein Riechvermögen in Mitleidenschaft gezogen. In der letzten Zeit rieche ich von Tag zu Tag weniger.«
    Lukas senkte den Kopf. Wegen seiner Hasenscharte war er es gewöhnt, dass die Leute ihn anstarrten, und so wusste er, wie es sich anfühlte, wenn im Gesicht des Gegenübers Schrecken über das Gesehene auftauchte. »Es tut mir leid!«, murmelte er.
    Da lachte der Doktor. »Du kannst ja nichts dafür! Und es hat auch Vorteile, glaub mir!«
    »Ich weiß nicht.« Lukas wand sich unbehaglich. »Die toten Ratten solltet Ihr schon entfernen lassen.«
    »Ich bin froh, dass ich dich nach Nürnberg geholt habe«, meinte der Doktor. »Du kannst dich nicht nur um unsere gemeinsame Arbeit kümmern, sondern ein wenig auch um mich. Wirst du das?«
    Lukas überhörte die Frage. »Unsere gemeinsame Arbeit?«, gab er zurück.
    Inzwischen hatten sie das Ende des Ganges erreicht, und der Doktor stieß eine Tür auf. »Komm«, bat er. »Ich zeige dir, was ich damit meine.«
    Obwohl es bereits spät war, erreichte Katharina das Henkershaus nur kurz nachdem Ludmilla es verlassen hatte. Jedenfalls behauptete Mechthild das. Katharina hatte das Gefühl, dass ihre Mutter das nur sagte, um ihr nicht schon wieder ein schlechtes Gewissen zu bereiten, und sie empfand einen Moment lang Zuneigung für sie. Dann jedoch überwog das schlechte Gewissen: Sie war fast den ganzen Tag lang fort gewesen, ohne auch nur einen Gedanken an Mechthild zu verschwenden.
    Mühsam lächelte sie ihre Mutter an, und Mechthild musterte sie neugierig. »Du siehst so anders aus«, bemerkte sie. »Da ist ein Glanz in deinen Augen, den ich lange nicht gesehen habe.«
    Katharina war nicht klar gewesen, welche Wirkung Richards Gegenwart auf sie gehabt hatte, bis sie diese Worte hörte. Ihre Mutter hatte offenbar recht: Es war wirklich an der Zeit, nach vorn zu sehen.
    Katharina überlegte, ob sie Mechthild von Richard erzählen sollte,aber dann entschied sie sich dagegen. Sie würde das Wissen um ihn hüten wie einen kostbaren Schatz. Sie spürte, wie ein Lächeln ihre Mundwinkel nach oben zog.
    »Ich war im Katharinenkloster«, meinte sie. »Die Priorin, erinnerst du dich? Sie hat mir heute morgen einen Vorschlag gemacht.« In knappen Worten schilderte Katharina ihrer Mutter, was Kunigunde gesagt hatte, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass das Zusammentreffen mit Richard der ganzen Sache eine völlig neue Wendung gegeben hatte.
    »Das ist doch wunderbar!«, rief Mechthild aus. »Dort könntest du heilen, wie du es dir so sehr wünschst!«
    Der Gedanke, das Angebot der Priorin tatsächlich anzunehmen, war nach dem Zusammentreffen mit Richard so weit entfernt, dass Katharina ihn regelrecht aus den hintersten Winkeln ihres Kopfes hervorklauben musste. Sie dachte an den Kuss, den sie mit Richard getauscht hatte. An das Gespräch über Erkenntnisgewinn, das sie mit ihm geführt hatte. Wie sehr hatte sie beides genossen!
    Und wie gut hatte es sich angefühlt, mit solcher Zärtlichkeit angesehen zu werden, wie er es getan hatte.
    »Du solltest ihr Angebot annehmen«, drang Mechthilds Stimme in ihre Gedanken.
    Katharina brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass ihre Mutter von Kunigunde sprach.
    Sie mahnte sich, mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben. Kunigundes Angebot war ein Weg. Ein Weg, der ihr das Heilen

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