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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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Schwindelgefühl hervorrief. Und dann regte sich ihr Ärger. Hatte sie denn eigentlich noch nicht genug Sorgen am Hals?
    Gerade, als sie anfing, sich in Selbstmitleid zu suhlen, klopfte es unten an der Haustür. Inzwischen war die Nacht vorangeschritten, und Katharina wunderte sich, wer um diese Zeit noch etwas von ihr wollte. Die letzten Minuten hatten sie und Mechthild schweigend dagesessen, und nur die Fackeln drüben am Fleischhaus hatten einen schwachen Schein zu den Fenstern hineingeworfen, in dem man Umrisse von Möbeln und Türen erkennen konnte.
    »Ich gehe öffnen«, sagte sie ihrer Mutter, erhob sich von deren Bett und zündete am Ofenfeuer eine Talglampe an, die sie mit nach unten nahm. Vorsichtig öffnete sie die Tür und spähte hinaus. Maria stand unter dem hölzernen Dach des Henkerssteges, der vom Fleischhaus bis vor die Haustür führte, und sie hielt sich mit einer Hand krampfhaft am Brückengeländer fest. Ihre Lider wirkten im Licht von Katharinas Lampe gerötet, als habe sie wieder geweint. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, die von großer Erschöpfung kündeten.
    »Maria!«, sagte Katharina. »Was ist geschehen?«
    Da holte Maria tief Luft. Es klang wie das Schluchzen eines kleinen Kindes, ein zitterndes Atemholen, das von Angst und Verzweiflung sprach. Und auch ihre Stimme war kindlich, als sie sagte: »Die Erinnerungen! Sie kehren jetzt alle wieder!« Sie presste die Hände auf den Magen, als sei ihr schlecht, aber sie würgte nicht, sondern beugte sich nur vor, ohne dabei das Geländer loszulassen. Dann richtete sie sich wieder auf. Blickte Katharina ins Gesicht und flüsterte: »Aber ich weiß nicht, ob es Erinnerungen sind! Ich weiß es einfach nicht. Vielleicht bin ich ja auch besessen!«
    Besessen!
    Das Wort war Katharina nur zu vertraut und auch die Angst davor, es zu sein. Sie trieb all ihre eigenen bösen Erinnerungen zurück in den hintersten Winkel ihres Geistes. Dann öffnete sie die Tür weit.
    »Kommt erst einmal herein!«, bat sie Maria.
    Die zögerte. Ihr war offenbar nur zu bewusst, wer in diesem Haus gewohnt hatte, und mit einem unsicheren Gesichtsausdruck machte sie einen Schritt vorwärts.
    »Der Henker lebt nicht mehr«, erinnerte Katharina sie. Bertram Augspurgers Tod war einige Tage lang in aller Munde gewesen – neben all den anderen schrecklichen Verlusten, die Nürnberg im August zur Zeit des Großen Wahnsinns erlitten hatte.
    »Ich weiß.« Dennoch wirkte Maria angespannt und voller Unbehagen, als sie über die Schwelle trat.
    Katharina schloss die Tür hinter ihr, und sie verriegelte sie sorgfältig, nicht, weil sie Angst vor einem nächtlichen Überfall hatte,sondern weil sie einen Augenblick brauchte, um ihre Gedanken unter Kontrolle zu halten. Es erstaunte sie, dass Maria, die als Hübschlerin selbst zu den Ehrlosen gehörte, so offensichtliche Angst davor hatte, die Wohnung eines ebensolchen zu betreten.
    Doch dann erinnerte Katharina sich an ihre eigenen Ängste aus der Zeit, als sie selbst noch geglaubt hatte, besessen zu sein. Sie erinnerte sich daran, wie ihr Vater ihr genau diese Ängste wieder und wieder mit dem Gürtel eingebläut hatte. Damals hatte auch sie Gespenster in jeder Ecke und in jedem Winkel gesehen. Marias Verhalten war gar nicht so widersprüchlich, wie sie zunächst gedacht hatte.
    »Bitte.« Katharina wies die schmale Treppe hinauf und ging hinter Maria hoch in ihre Kammer. »Es ist eine Freundin, Mutter!«, rief sie nach hinten. »Wir haben etwas zu besprechen.« Und sie schloss die Tür zwischen den beiden Räumen, bevor Mechthild mehr als einen kurzen Blick auf den Gast werfen konnte.
    Maria drehte sich einmal im Kreis, um den Anblick in sich aufzunehmen. An dem Schrank in der Ecke blieb ihr Blick hängen, und Katharina konnte das Schaudern sehen, das sie zu unterdrücken suchte. Sie wusste, was Maria dachte. Sie selbst hatte es ebenfalls gedacht, als sie zum ersten Mal in diesem Raum gewesen war.
    »Es ist nicht mehr da«, sagte sie sanft. »Es gehörte nicht meinem Stiefvater, sondern dem Rat. Und der ließ es abholen, als Augspurger starb.«
    Maria nickte und wirkte dabei sehr erleichtert. Die Rede war von dem Henkersschwert. In Nürnberg ging die Legende, dass es in seinem Schrank im Henkershaus anfing zu poltern, sobald jemand die Stube betrat, dem der nahe Tod bevorstand. »Die frommen Frauen haben uns gern Angst mit dem Schwert gemacht, wenn wir nicht artig waren«, erzählte Maria. »Besonders Heini, einer der Jungen,

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