Cherubim
hatte oft Alpträume davon, aber trotzdem hat er immer wieder mitgemacht, wenn wir Kopfschlagen gespielt haben.«
Kopfschlagen , das wusste Katharina noch aus ihrer eigenen Kindheit, war ein recht makabres Spiel, bei dem ein dicker Ast das Henkersschwert darstellte und ein Abzählreim denjenigen aus der Runde bestimmte, der dazu ausersehen war, geköpft zu werden. Sie blickte sich um, dann zog sie einen Schemel unter dem Fenster hervor, botihn Maria an und setzte sich selbst auf die Kante ihres Bettes. »Jetzt erzählt! Was treibt Euch zu mir?«
Maria seufzte. »Ich sagte Euch bereits, dass ich beginne, mich an meine Vergangenheit zu erinnern.«
Katharina nickte. Aus Erfahrung wusste sie, dass es in einer solchen Situation besser war, nichts zu sagen. Die Stille zwischen ihr und Maria würde irgendwann groß genug werden, um die Worte aus Maria hervorzubringen.
Es dauerte nicht lange, bis das geschah.
»Ich glaube jetzt zu wissen, was vor meinem fünften Lebensjahr geschehen ist. Jedenfalls zum Teil.«
Katharina setzte sich ein wenig anders hin und schwieg weiter.
»Meine Eltern ...« Maria seufzte, als sie das sagte. »Es scheint, als seien sie Juden gewesen. Ich glaube, dass ich eigentlich Mirjam heiße.«
Mirjam. Katharina ließ diesen Namen auf sich wirken. »Ein schöner Name.«
Maria zuckte die Achseln. »Bleiben wir vorerst bei Maria. Das ist einfacher. Ich erinnere mich an Momente mit meinem Vater. Er hat mir vom Tempel in Jerusalem erzählt und von anderen Dingen, an die Juden glauben. Ich weiß nicht genau, ob es wirklich mein Vater ist, der mit mir spricht, aber es fühlt sich so an. Ich weiß, dass ich ihn sehr lieb gehabt habe.« Sie hielt inne, versenkte sich für einen Augenblick in ihren Erinnerungen. Dann hob sie den Blick und richtete ihn auf einen Punkt hinter Katharinas Schulter. »Aber dann muss irgendetwas passiert sein. Ich erinnere mich an das Geräusch von ledernen Sohlen auf der Treppe. Sie haben mich fortgeholt von zu Hause, und ich glaube, dass sie mich zu einer Frau gebracht haben, die Christin war. Auch an sie erinnere ich mich nur bruchstückhaft. Sie war sehr brutal, ich weiß, dass sie mich häufig geschlagen hat.« Maria blinzelte. »Und noch heute höre ich ihre keifende Stimme. Du bist Christin, keine dreckige Jüdin! « Den letzten Satz sprach sie mit verstellter Stimme, und so viel Wut und Irrsinn klangen aus ihren Worten, dass Katharina schauderte. »Aber das kann nicht sein, oder? Wie kann jemand gleichzeitig Jüdin und Christin sein?« Sie rieb sich über die Augen. »Ich verstehe das alles nicht!«
»Ihr habt gesagt, dass Ihr in einem Findelhaus von frommen Frauen aufgewachsen seid«, hakte Katharina vorsichtig nach. »Dort, wo Ihr Dagmar getroffen habt.«
»Das stimmt auch. Der Moment, in dem die keifende Frau mich dort abgeliefert hat, war lange Zeit das Erste, an das ich mich überhaupt erinnern konnte. Alles, was ich Euch eben erzählt habe, liegt vor diesem Tag. Irgendetwas muss passiert sein, dass die Frau mit der keifenden Stimme mich nicht mehr haben wollte und in das Haus brachte.« Maria schlang die Arme um den Leib und beugte sich vor, als habe sie Krämpfe. »Warum werde ich gestraft?«, murmelte sie. »Was habe ich getan, dass Adon... Gott mir erst das Gedächtnis raubt und mich jetzt mit diesen ganzen Stimmen quält? Welche Sünde habe ich begangen, die groß genug ist, um mich mit Vergessen zu schlagen, sagt mir das!«
Katharina war nicht entgangen, dass Maria fast die jüdische Bezeichnung für Gott ausgesprochen hätte und sich gerade noch rechtzeitig verbessert hatte. Es kam ihr vor, als schlügen zwei Seelen in Marias Brust, und sie hatte keine Ahnung, wie es dazu gekommen sein mochte. Was für ein grausames Spiel spielte Gott mit dieser armen Frau? Dieser Gedanke war plötzlich da, und er wurde gefolgt von einem ganz anderen, einem sehr beunruhigenden: Was, wenn es Gott gar nicht brauchte, um diese Frau zu quälen? Menschliche Handlungen in all ihrer Grausamkeit reichten vollends aus, um jemanden in den Wahnsinn zu treiben, das wusste sie aus eigener Erfahrung.
»Ich bin kein Priester«, sagte Katharina leise. »Aber ich bin ganz sicher, dass nicht jede Gemütskrankheit eine Strafe Gottes ist.« War sie das wirklich? Sie hatte sich mit großem Aufwand gezwungen, das zu glauben, um ihre eigene melancholia aushalten zu können.
Plötzlich empfand sie eine tiefe Verbundenheit mit dieser Hure, die unter ähnlichen Problemen litt wie sie
Weitere Kostenlose Bücher