Cherubim
Ihre Mundwinkel wiesen nach unten, und die gesamte Kieferpartie wirkte verkrampft, als Kunigunde nun nickte. »Ja. Ziemlich. Aber das ist nicht der Grund, warum ich Euch rufen ließ.«
Sie zwängte eine Hand unter der Decke hervor, die man rings um ihren Körper sorgfältig festgesteckt hatte, und mit einem verkrümmten Zeigefinger deutete sie unter ihre Bettstatt.
Katharina verstand nicht ganz.
»Der Nachttopf«, murmelte Kunigunde. »Man hat mir einen bewilligt, weil ich mich gestern Abend kaum bewegen konnte wegen der Schmerzen in meinen Gelenken.«
Katharina erinnerte sich daran, dass den Nonnen, um sie vor der Sünde der Bequemlichkeit zu bewahren, verboten war, Nachttöpfe zu benutzen. Sie beugte sich hinab und zog das schlichte, aus Ton gefertigte Gefäß hervor, dem der typische Geruch von abgestandenem Urin entstieg.
»Wie alt ist er?«, fragte Katharina.
»Von gestern Abend.« Kunigunde versuchte, sich ein wenig aufrechter zu betten, doch es gelang ihr nicht. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sank sie zurück in ihre Kissen. Katharina musterte ihre Fingergelenke. Keinerlei übermäßige Verdickungen, die bei Menschen, denen die Gicht derartig starke Schmerzen verursachte, eigentlich immer vorhanden waren. Es war seltsam. Katharina blickte in den Nachttopf.
Und erschrak.
Der Urin war schwarz. Eine pechartige Wolke trieb darin herum,wie Tinte, die man in Wasser gegossen hatte, ein wenig flockig und von der Konsistenz her gestockter Milch ähnlich.
Katharina biss die Zähne zusammen, denn sie wusste, was dieses Zeichen zu bedeuten hatte: Schwarzer Urin war ein Hinweis auf den nahe bevorstehenden Tod!
Es gab in den Büchern der Gelehrten etliche Beschreibungen von Menschen, deren Urin sich schwarz gefärbt hatte und die danach nur noch wenige Tage gelebt hatten. Katharina kannte einige dieser Fälle.
Langsam ließ sie sich auf die Bettkante sinken.
»Ihr wisst, was das bedeutet?«, fragte die Priorin. Sie hatte Katharina aufmerksam beobachtet, während diese den Urin studierte.
Katharina hob den Blick. Kunigunde kannte die Zeichen ebenfalls, das war überdeutlich. Jetzt begriff Katharina auch, dass es nicht Schmerzen waren, die die tiefen Linien in ihr Gesicht gegraben hatten, sondern Angst. Nackte Todesangst.
Katharina nickte zaghaft. Fieberhaft suchte sie nach den passenden Worten, nach etwas Trost, den sie spenden konnte, doch ihr fiel nichts ein, das sie hätte sagen können. Nichts, das nicht hohl und abgedroschen geklungen hätte. Behutsam stellte sie den Nachttopf auf die Erde und schob ihn wieder unter das Bett.
»Ich danke Euch«, murmelte Kunigunde.
Katharina hob fragend die Augenbrauen.
»Dafür, dass Ihr Euch nicht zu albernen Sentenzen herablasst. Gottes Wege sind unergründlich und derartiges.« Kunigunde lachte auf, und das Geräusch jagte Katharina einen Schauer über den Rücken.
Sie räusperte sich. »Ich weiß, Ihr hegt große Hoffnungen, was meine Heilkünste angeht, aber ...«
Kunigunde hob die Hand und brachte Katharina so zum Schweigen. »Ich weiß, dass die besten Heiler nichts gegen den Tod vermögen, wenn er sich mit schwarzem Harn ankündigt. Galen selbst stand dieser Situation ohnmächtig gegenüber, ich habe in seinen Schriften nachgelesen.«
Katharina senkte die Lider. »Was wünscht Ihr dann von mir?« Sie fühlte sich klein und hilflos, und es fiel ihr schwer, Kunigundes Blicken standzuhalten.
»Ich mache mir Sorgen«, gestand die Priorin. »Nicht um mich, sondern um die mir anvertrauten Nonnen. Was wird aus ihnen werden, wenn ich sterbe?«
»Habt Ihr denn keine würdige Nachfolgerin?«
»Schwester Agnes wäre diejenige, die mir nachfolgt, und ich glaube, sie wäre sogar eine gute Priorin. Aber sie ist eine gestrenge Frau, und ich fürchte, dass in dieses Kloster eine Menge Düsternis Einzug halten wird, wenn nicht gleichzeitig jemand Warmherziges sich um die Nonnen kümmert.«
Katharina schluckte, denn sie ahnte, worauf die Priorin hinauswollte. »Ihr möchtet, dass ich Euer Angebot annehme.«
Kunigunde antwortete nicht, sondern schaute Katharina forschend an. Ihre Augen bewegten sich in den Höhlen hin und her, und obwohl die Priorin völlig regungslos dalag, bewirkte allein diese Bewegung, dass sie ruhelos aussah. In ihrem Augenwinkel, neben der Iris, hatten sich Flecken gebildet. Katharina registrierte sie nur am Rande.
Sie fühlte sich stark unter Druck gesetzt, und sie überlegte fieberhaft, was sie nun sagen sollte. »Ich ... ich habe die Entscheidung
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