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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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geöffnet, um zu fragen, was für unterschiedliche Urinsorten es gab, aber der Doktor hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu veranlassen. »Scht! Jetzt muss ich mich konzentrieren.«
    Und so schwieg Lukas.
    Er sah zu, wie der Doktor einen Lappen aus der Kiste nahm, mit dessen Hilfe er die Phiole an ihrem dünnen Hals anfasste, und begann, das kostbare Glasgefäß über der heißen Glut zu drehen. Ab und an, wenn er es befohlen bekam, betätigte Lukas den Blasebalg. Und wieder wurde ihm unendlich langweilig.
    Waren das die Haupteigenschaften eines Alchemisten? Geduld und Ausdauer?
    Dann eignete er sich vielleicht nicht besonders gut für diese Kunst. Die Ungeduld nahm ihn in ihren Griff, machte seine Füße unruhig. Einmal, als er gar zu sehr scharrte, blickte der Doktor finster auf, und für einen Augenblick sah Lukas wieder dieses zornige Funkeln in seinen Augen. Rasch murmelte er ein »Entschuldigung« und bemühte sich von da an, kein Glied mehr zu rühren. Was dazu führte, dass ihn am ganzen Körper ein Kribbeln zu plagen begann und ihn fast in den Wahnsinn trieb. Er öffnete und schloss die Hände, um das Kribbeln zu bekämpfen, aber es nützte nicht viel.
    Unendlich erleichtert sah er zu, wie der Doktor endlich die Phiole aus der Glut nahm. »Verflixt und zugenäht!«, fluchte er.
    »Es geht nicht.« Lukas musste es einfach sagen, sonst wäre er geplatzt. Im Inneren der Phiole hatte sich die Masse zwar verändert, war nicht mehr rötlich, sondern von einem stumpfen, nichtssagend aussehenden Schwarz.
    Der Doktor reagierte nicht. Er stand einfach da, den Blick in die Ferne gerichtet, die Phiole noch immer in der Hand. Er rührte sich so lange nicht, dass Lukas es mit der Angst zu tun bekam.
    »Doktor?«, wagte er schließlich zu fragen.
    Der Doktor blinzelte, reagierte aber immer noch nicht.
    »Doktor?«, versuchte Lukas es erneut und fügte hinzu: »Meister Jacob?«
    Da endlich schien der Doktor aus seiner Starre zu erwachen. Er seufzte schwer. Dann stellte er die Phiole vorsichtig auf dem Küchentisch ab. »Es ist noch immer nicht richtig!«, flüsterte er, und er klang dabei so verzweifelt, als stünde er mit einem Fuß am Rande der Hölle. »Ich habe alles ausprobiert, reiner Urin von Männern, gemischter Urin, welcher von Gesunden und von Kranken. Ich hattegehofft, dass es jetzt, nur mit Frauenurin ...« Hilflos hob er die Schultern und atmete einmal zitternd ein und wieder aus.
    Lukas ging mit zögernden Schritten zum Doktor hinüber, aber bevor er sich dazu entschließen konnte, ihm tröstend eine Hand auf die Schulter zu legen, packte der Doktor den Mörser und schleuderte ihn mit solcher Wucht gegen die Wand, dass er einen glockenartigen Ton von sich gab und dann poltend zu Boden fiel. Er rollte bis vor den Herd und blieb dort liegen.
    Lukas ging, um ihn aufzuheben. Das Metall hatte eine deutlich sichtbare Delle am Rand, genau dort, wo das vierte und letzte Wort eingraviert worden war.
    Lukas kniff die Augen ein wenig zusammen, um es trotz der Verzerrrung entziffern zu können.
    Erythrosis , las er.
    Das nun vermochte er sogar mit seinen schwachen Griechischkenntnissen zu übersetzen, doch bevor er die Bedeutung aussprechen konnte, erklang die Stimme des Doktors, und sie hatte jetzt einen hohlen, verzweifelten Klang.
    »Ja, es heißt Rotfärbung, Lukas«, wisperte er. »Rot. Rot wie Blut.« Und dabei starrte er auf seine zu Fäusten geballten Hände.

16. Kapitel
    In dieser Nacht konnte Katharina nicht einschlafen, weil ihr zu viele Dinge im Kopf herumgeisterten. Sie dachte an die entstellten Leichen von Heinrich und Dagmar. Sie dachte an Maria und deren Ängste, die sie so gut nachvollziehen konnte. Und dann grübelte sie auch noch über den drohenden Verlust des Henkershauses und den Vorschlag ihrer Mutter nach, ins Heilig-Geist-Spital einzutreten.
    Doch ein Gedanke schob sich immer und immer wieder vor das alles. Es war der Gedanke an Richard und an den Kuss, den sie getauscht hatten. Weil alle Grübeleien zu nichts führten, erlaubte sie sich für einen Moment, in einem angenehmen Traum zu versinken und sich vorzustellen, wie es wäre, Frau Sterner zu sein. Dann müsste ihre Mutter nicht in ein Armenhaus gehen, oder? Würde Richard ihr erlauben, Mechthild in sein Haus mit aufzunehmen? Und: Würde sie selbst das überhaupt wollen?
    All diese Gedanken vermischten sich in Katharinas Kopf mit der zunehmenden Müdigkeit, und irgendwann glitt sie in einen leichten Schlummer.
    Sie träumte. Im Traum stand

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