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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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Gottesdienstbesucher die Kirche verlassen hatten. Mit klopfendem Herzen erhob sie sich schließlich und ging durch die Bankreihen nach vorn. Die Nonnen waren längst fort, durch die ihnen eigene Pforte wieder in den Tiefen ihres Klosters verschwunden, wo sie ihre Zeit wahrscheinlich mit weiteren Gebeten und Gesängen verbrachten.
    Der Priester, der sich gerade mit einem der beiden Messdiener unterhielt, bemerkte Maria und warf ihr einen fragenden Blick zu.
    »Ich würde gerne die Beichte ablegen, Vater«, flüsterte sie. Vor Aufregung war ihre Stimme völlig tonlos.
    Der Priester sah an ihr hinab, runzelte die Stirn, und sofort wirkte er auf Maria viel weniger freundlich, als Katharina ihn ihr geschildert hatte. »Hast du keinen eigenen Beichtvater, Tochter?«, fragte er. »Zu welcher Kirche gehörst du denn? Ich habe dich hier noch nie gesehen.«
    »Gewöhnlich höre ich in der Frauenkirche die Messe.« Noch immer konnte sie nur flüstern. Der Priester gab seinem Messdiener einen Wink, und der junge Mann verabschiedete sich höflich. Im nächsten Moment war er verschwunden, und der Priester trat an den Lettner. Aus wachen und irgendwie sanften Augen musterte er sie.
    Maria kam sich vor wie ein Tier in einem Käfig. »Seid ... seid Ihr Pater Johannes Schedel?«, fragte sie.
    Er runzelte die Stirn. »Ja. Woher kennst du meinen Namen?«
    »Katharina Jacob schickt mich.« Als sie den Namen sagte, blickte Maria über die Schulter. Doch Katharina war noch immer nicht erschienen. Bis auf sie selbst und den Priester war die Kirche jetzt leer.
    »Katharina Jacob!«, wiederholte der Priester kopfschüttelnd.
    Maria nickte. »Sie sagte, Ihr seid der passende Beichtvater für Menschen, die von den Dämonen ihrer Vergangenheit gequält werden.«
    Diesmal ächzte Bruder Johannes. »Sagt sie das? Nun, sie hat möglicherweise nicht ganz unrecht.« Kurz verklärten sich seine Augen, als wanderten seine Gedanken in die Vergangenheit zurück. Dann jedoch besann er sich und heftete den Blick wieder auf Maria. »Warte eine Augenblick«, bat er. »Ich muss erst die Kleidung wechseln. Ich bin sogleich wieder da. Du kannst dich schon einmal niederknien und ein paar Gebete sprechen.«
    Er verschwand durch eine Tür in der rechten Seitenwand des Kirchenschiffes. Maria tat wie geheißen. Sie raffte den Rock ein wenig. Die Federn darunter kitzelten sie am Bein, aber sie achtete nicht darauf, sondern kniete sich auf die harten Steinfliesen der Stufen, die zum Lettner hinaufführten. Sie faltete die Hände zum Gebet und kam sich dabei ziemlich kindisch vor. Doch sie unterdrückte das Missfallen, senkte den Kopf und begann das erstbeste Gebet zu sprechen, das ihr in den Sinn kam. Es war das Ave Maria. Sie hatte es geradezum zweiten Mal begonnen, als Bruder Johannes wiederkam. Er hatte das grüne Messgewand gegen ein violettes getauscht, das zur Abnahme der Beichte und zur Erteilung der Absolution getragen wurde.
    Er trat vor Maria hin und blickte auf sie hinab. Der Lettner befand sich zwischen ihnen wie ein Hindernis, und das Gefühl, in einem Käfig zu sitzen, verstärkte sich noch. Maria schluckte. Ihre Knie schmerzten bereits jetzt vom Knien auf den Steinen.
    Dann seufzte Bruder Johannes schwer und ließ sich auf der anderen Seite der Schranke nieder. Maria bemerkte, dass für ihn eine samtbezogene Fußbank vorgesehen war. Sie unterdrückte ihren Unmut über diese Ungerechtigkeit und begann mit dem vorgeschriebenen Ritual.
    »Benedic mihi, pater, quia peccavi« , sagte sie die lateinischen Worte, die, wie sie wusste, bedeuteten: Vergib mir Vater, die ich gesündigt habe.
    »Deo Patris sit gloria« , erwiderte Bruder Johannes. Dann wartete er.
    Maria brauchte einen Moment, bis ihr einfiel, dass sie an der Reihe war. Hastig murmelte sie: »In saeculorum saecula. Amen . «
    »Was führt dich zu mir, Tochter?«, fragte Bruder Johannes, und Maria schaute überrascht auf. Dies waren nicht die vorgeschriebenen Worte. Fragend blickte sie Bruder Johannes an.
    Er lächelte ihr aufmunternd zu, und plötzlich war Maria sich sicher, dass Katharina mit ihrer Einschätzung recht gehabt hatte: Dieser Mann wusste, was es bedeutete, von den Geistern der Vergangenheit gejagt zu werden. Er würde ihr helfen können!
    »Ich habe mein Gedächtnis verloren, Vater«, begann sie. Und dann sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. Sie erzählte dem Priester von ihren frühesten Erinnerungen an das Findelhaus und wie sie dort von der ihr noch immer unbekannten Frau

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