Cherubim
abgeladen worden war. Sie erzählte ihm von Dagmar und davon, wie sie gemeinsam mit ihr zu einer gefallenen Frau geworden war. Und dann holte sie tief Luft und fügte hinzu: »Dagmar ist tot. Und seitdem quälen mich Bilder, die ich mir nicht erklären kann. Bilder, von denen ich glaube, dass sie aus jener Zeit stammen.«
Bruder Johannes schwieg einen Moment. Maria schielte unter ihren Haaren hervor und in sein Gesicht, in dem es heftig arbeitete. Dann wischte er sich über die Augen. »Was sind das für Bilder?«
Maria erzählte ihm von dem blutigen Rinnsal auf dem Pflaster des Großen Marktes, von der Hand, die sie mit so brutaler Härte festhielt, dass ihr alle Fingerknochen schmerzten. Und sie erzählte ihm von den Geräuschen der Ledersohlen auf der Treppenstufe, von den Stimmen, die sich mit ihrem Vater stritten. Von den Händen, die sie packten und einfach mit sich zerrten. Sie erzählte davon, wie ihre Mutter geweint und geschrien hatte, und bei der Erinnerung daran schossen ihr Tränen in die Augen. »Sie hat immer wieder gesagt: Nehmt sie mir nicht weg! Nicht meine Tochter. Mein Kind! Mein Kind!« Mit einem bebenden Ausatmen verstummte Maria.
Der Weihrauch, der noch immer in der Luft hing, kratzte ihr im Hals. Sie unterdrückte ein Husten.
Die Glocke der Kirche schlug einen einzelnen Ton.
Eine Taube flatterte im Dachgestühl auf. Das Geräusch ihrer Flügelschläge dröhnte in Marias Ohren.
Und plötzlich, wie ein schweres Gewicht, das ihr auf den Scheitel niederfuhr, waren alle Erinnerungen wieder da.
Sie sah eine geschlossene Tür mit einer bronzenen Klinke vor sich, dann hörte sie die Geräusche von ledernen Sohlen auf den Stufen der Treppe. Und schließlich hörte sie die klagende Stimme ihrer Mutter: »Was wollt Ihr hier? Ich habt kein Recht ...«
Die Tür zu ihrem Zimmer wurde aufgestoßen, und zwei Männer standen vor ihr. Groß waren sie, und gekleidet in dunkelbraune, furchteinflößende Gewänder, deren Zweck sie damals nicht begriffen hatte, die sie aber jetzt, da das Bild nun endlich überdeutlich vor ihrem inneren Auge erschien, als Mönche erkannte ... Einer von ihnen streckte die Arme nach Mirjam aus und nahm sie hoch. Sie schrie, denn die unheimlichen, gestreng aussehenden Männer machten ihr Angst. Doch der Mönch ließ sie nicht los. Auch nicht, als ihre Mutter in das Zimmer gestürzt kam und sie ihm wegnehmen wollte. Auch nicht, als er sich umwandte, den Raum verließ und gefolgt von seinem Begleiter die Treppe hinunterging, wo Mirjams Vater sich ihm entgegenstellte.
»Das ist meine Tochter!«, brüllte der Vater, doch die beiden Mönche ließen sich nicht beirren.
»Du bist jüdischen Glaubens«, sagten sie, als erkläre das alles. Dann drängten sie sich vorbei und wollten nach dem Türgriff fassen. Mirjams Vater hielt sie davon ab, indem er die Tür mit dem Unterarm zuhielt. »Sie ist ein jüdisches Kind!«, rief er, und die Mutter weinte oben auf der Treppe so herzzerreißend, dass Mirjam den Kopf wandte und über die Schulter des Mönchs in ihr Gesicht blickte. So viel Angst und Entsetzen stand darin, dass Mirjam jetzt zum ersten Mal begriff, in welcher Gefahr sie sich befand. Rasch sah sie ihren Vater an. Konnte es sein, dass er nicht in der Lage war, sie vor den dunklen Männern zu beschützen?
»Sie ist keine Jüdin mehr«, sagte der Mönch, der Mirjam auf dem Arm hielt. »Anna Weber, die du als Dienstmagd eingestellt hast, hat sie getauft. Damit ist sie Christin, und die Kirche kann es nicht zulassen, dass ihre getaufte Seele in Gefahr gerät. Sie muss fortan von Christenmenschen erzogen werden.«
Ihr Vater hatte versucht zu argumentieren, er hatte versucht, Mirjam den Mönchen zu entreißen, aber am Ende war er zur Seite gestoßen worden und auf dem harten Fliesenboden gelandet. Und die Mönche waren mit Mirjam auf dem Arm hinaus in die Nacht gestapft, in der ein eisiger Wind geweht und das Weinen ihrer Mutter bis hinauf an die Pfeiler des Himmelsgewölbes getragen hatte.
Damals hatten sie aus ihr, aus Mirjam der Jüdin, eine Christin namens Maria gemacht. Doch tief in ihrem Herzen war sie immer Mirjam geblieben.
Das Bild verblasste, und es machte einem anderen Platz. Einige Jahre später, Maria erkannte es daran, dass sie größer geworden war, hatte sie ihren Vater auf dem Großen Markt getroffen. Es war nicht das erste Mal, das wusste sie, denn da war die Erinnerung an eine frühere Begegnung, eine, in der die Frau mit der kalten Hand ihn wüst beschimpft und
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