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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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beleidigt hatte und in dem seine Freunde ihn mit sanfter Gewalt davongeführt hatten. Maria erinnerte sich noch gut an seine traurigen Augen und die Hoffnungslosigkeit darin, seine Tochter jemals wieder in die Arme schließen zu können. In der Erinnerung, die Maria jetzt ansprang, hatte er es noch einmal getan.Und es war sein Tod gewesen. Er hatte sich durch die Menge gedrängt und vor Maria niedergekniet. Dann hatte er sie in die Arme gezogen und mit tränennassem Gesicht an ihrem Hals immer wieder und wieder gemurmelt: »Meine Kleine, meine Prinzessin!« Bis man aufmerksam auf das Gekreische der Frau mit der harten Hand geworden war. Bis eine aufgebrachte Menge ihn von seiner Tochter fortgezerrt hatte. Da waren Knüppel gewesen, Schläge von solcher Wucht, dass sie sich anhörten wie Armbrustschüsse. Und Schreie. Maria erinnerte sich jetzt an den Tumult. Daran, dass die Frau mit der harten Hand sie festgehalten hatte, weil sie zu ihrem Vater wollte. Doch die Menge hatte vor ihren Augen verborgen, was geschehen war. Bis sie sich zerstreute und bis Maria sah, was sie getan hatten.
    Ein rotes Rinnsal, das sich um das bucklige Pflaster seinen Weg suchte. Erloschene Augen. Der erschlagene Mann.
    Er war Marias Vater gewesen. Mirjams Vater.
    Jetzt erinnerte sie sich, dass sie geschrien hatte. Wie ein verwundetes Tier hatte sie geschrien, bis die Frau mit der harten Hand ihr eine Ohrfeige gegeben hatte und noch eine zweite, die sie endlich zum Verstummen gebracht hatte.
    Und dann hatte sich die Dunkelheit des Vergessens über Mirjams Geist gesenkt, hatte das Entsetzen fortgenommen, das zu machtvoll für ihren kleinen Geist gewesen war. Auf diese Weise hatte es dafür gesorgt, dass sie nicht auf der Stelle den Verstand verlor.
    Aber das Wissen hatte in Mirjams Geist weitergelebt, hatte ihn ausgehöhlt und vergiftet, bis heute. Bis der Wahnsinn seine kalten Klauen nach ihr ausstreckte und sie erzittern ließ.
    »Was hast du, Tochter?« Die Stimme von Bruder Johannes dröhnte in ihren Ohren, doch sie nahm ihren Sinn kaum wahr. Mit zitternden Knien stand sie auf, zwängte die Hand durch das kaputte Futter ihres Rockes. Sie fuhr herum, eilte zu der niedrigen Tür im Lettner und öffnete sie. Sie sah die Augen des Priesters sich weiten, hörte ihn nach Luft schnappen. »Bei Jesus Christus!«, hauchte er, und das war der letzte Hieb, der noch nötig gewesen war, um die Fassade von geistiger Gesundheit um Mirjams Geist zerbröseln zu lassen.
    Im nächsten Moment war sie bei ihm, krallte die Hand in sein Messgewand.
    »Ich – bin – keine Christin!«, herrschte sie ihn an, und auf einmal war ihre Stimme nicht mehr tonlos und piepsig wie die einer Maus, sondern kraftvoll und tief, wie es die ihres Vaters gewesen war. »Ich bin Jüdin! Jüdin, hört Ihr das!« Mit einem Ruck wollte sie die beiden Tauben aus ihrem Rock ziehen. Die Tiere jedoch verhedderten sich in der für sie zu kleinen Öffnung. Mit Gewalt riss Mirjam an ihnen, so dass ihr Rock in die Höhe flog und sie für einen Moment lang völlig entblößt in der Kirche stand.
    »Jesus und Maria!«, wisperte Bruder Johannes.
    Dann endlich hatte Mirjam die Tauben aus den Falten des Stoffes befreit. Triumphierend reckte sie sie in die Höhe. Der Rock fiel wieder um ihre Knöchel.
    Sie wusste, dass die beiden Tiere einen ekelerregenden Anblick boten. Beide hatten sie keine Augen mehr, und weil Mirjam ihnen noch in der Wohnung die Hälse umgedreht hatte, wirkten ihre Federn zerzaust und hässlich. Doch sie waren alles, was Mirjam hatte.
    Mit einem Satz sprang sie auf den Altar zu. Der kreuztragende Christus darauf schien sie verspotten zu wollen.
    »Frau, was tust du?«, schrie Bruder Johannes. Und dann: »Hilfe! Sie ist vom Teufel besessen!«
    Sie achtete nicht darauf, sondern blieb vor dem Altar stehen. Kerzen brannten darauf, die sie nicht anrührte, aber ein hölzernes Kreuz mit einer bronzenen Jesusfigur daran packte sie und schleuderte es zu Boden. »Ich opfere dir, Jahwe!«, schrie sie und reckte die beiden toten Tauben in die Luft. »Ich bringe dir das Opfer, das dir zusteht!« Und mit großer Wucht knallte sie die toten Vögel auf den Altar, so dass ein paar Federn in die Luft stoben und sich langsam zu Boden senkten.
    »Weil du ...« Weiter kam sie nicht mehr. Schritte wurden laut, sie vermeinte lederne Sohlen zu hören und wollte herumfahren, doch es war längst zu spät. Sie spürte einen Luftzug seitlich an ihrem Hals, dann einen brutalen Schmerz im Genick.
    Die

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