Cherubim
nicht besonders gut. Stattdessen glaubte sie noch immer den metallischen Geruch des Blutes zu riechen, das ihre Nasenlöcher verstopfte.
Aber eines hatte sie damals ganz sicher gewusst!
Dass ihr Name Mirjam war.
Nicht Maria!
Dieser Gedanke sprang Maria so unvermittelt an, dass sie nach Luft schnappte.
Mirjam?
Noch nie zuvor hatte sie diesen Namen gehört. Oder?
Ein Bild stieg in ihr auf – fern, nebelhaft, einem Traum gleich. Sie, voller Empörung die Hände in die Hüften stemmend. Sie rief: »Ich heiße aber Mirjam!«
Dann verblasste das Bild wieder.
Maria kniff die Augen zusammen und versuchte, den Nebel in ihrem Kopf zu durchdringen. Doch vergeblich. Alles, was sie hörte, war die kalte Stimme, die sagte: »Das ist Maria. Ihr müsst Euch jetzt um sie kümmern!«
Maria versuchte zu ergründen, wem die eisige Stimme gehörte. War es ihre Mutter, hatte Maria sie so zornig gemacht, dass sie sie einfach fortgab? Sie versuchte, den Zipfel der Erinnerung zu erhaschen, so wie sie eine Bewegung erhaschte, die am Rande ihres Gesichtsfeldes vorbeihuschte. Doch als sie sich jetzt mit aller Gewalt darauf konzentrierte, war er fort, und die Erinnerung ähnelte einem Geist, der sie umkreiste, der jedoch gerade außerhalb ihrer Wahrnehmung blieb. Es war ein Gefühl, das Maria wahnsinnig machte. Heftig schüttelte sie den Kopf.
»Wer hat dich gemacht, Mimi?«, seufzte sie.
Und das rote Rinnsal floss auf sie zu, tränkte die Ritzen zwischen dem buckeligen Pflaster.
Erschrocken schnappte Maria nach Luft.
Was war das gewesen? Sie schloss die Augen, tastete in ihrem Kopf nach dem Bild, und tatsächlich wurde es deutlicher.
Ein dunkelrotes Rinnsal, schmal wie ein Finger und doch furchtbarin seiner Ergiebigkeit. Es füllte die Zwischenräume des Pflasters, tränkte den Staub, der sich dort während der Sommerhitze angesammelt hatte, und umfloss einen mageren Löwenzahn, der sich mühselig seinen Weg durch den harten Straßenbelag gebahnt hatte.
»Blut!« Maria riss die Augen wieder auf, und das Bild war fort. Was hatte es zu bedeuten? Wessen Blut war es, das sie gesehen hatte?
Sie hatte keine Ahnung, und weil das Bild sie zu sehr ängstigte, richtete sie den Blick auf Mimi, die der einzige Halt war, den sie besaß.
Das Füllmaterial des Puppenkopfes war im Laufe der Zeit zu Staub zerbröselt, und der Kopf dadurch ein wenig außer Form geraten. Doch das Gesicht – große runde Augen mit langen Wimpern, eine kleine Nase, ein breiter Mund und leuchtend rote Wangen – war nach wie vor gut zu erkennen.
Ihr Vater hatte teure Farben verwendet, um das Gesicht aufzumalen ...
Der Gedanke kam so unvermittelt wie das Bild mit dem blutigen Rinnsal. Maria ächzte.
Ihr Vater?
Und die toten Augen des erschlagenen Mannes starrten sie an, als wollte er sie noch im Tode anklagen ... und der metallische Geruch des Blutes reizte sie zum Würgen ...
Maria schlug die Hand vor den Mund, als diese neuen Erinnerungsfetzen in ihrem Gedächtnis aufleuchteten. So unendlich grell und deutlich sah sie den erschlagenen Mann, sah, wie das Blut, das das rote Rinnsal bildete, aus einer Wunde an seinem Kopf sickerte und den Boden netzte. Glaubte, es wieder zu riechen.
Dann wurde es erneut dunkel in ihren Erinnerungen.
Maria wagte es nicht, sich zu rühren. Sie klammerte die Hand um Mimis Leib, drückte sie so fest, dass sie den alten Stoff unter ihren Fingern knirschen hören konnte.
Sie wusste nicht, wie lange sie dasaß, zusammengekrümmt wie in Erwartung von harten Schlägen, bis sich ihr Herzschlag wieder etwas beruhigte. Bis sie sicher war, dass die blitzartig aufflammenden Bilder nicht zurückkehren würden. Da erst setzte sie sich wieder aufrecht hin und sah sich um.
Die kleine Wohnung, die sie sich mit Dagmar teilte, befand sich direkt über einer Gerberwerkstatt unten am Fluss. Aus diesem Grund hatten die beiden Frauen eine Vereinbarung, dass diejenige von ihnen, die als Erste nach Hause kam, die beiden Fensterläden öffnete, um den unangenehmen Geruch zu vertreiben, der im Laufe des Tages durch sämtliche Ritzen im Fußboden in die Wohnung eindrang und die Luft verpestete. Das hatte Maria in der Nacht auch getan, nachdem sich der blonde Patrizier als völlige Pleite herausgestellt hatte.
Er war zwar mit ihr zurück zu Niklas’ Gasthaus marschiert und auch mit in den Raum über der Schankstube gegangen. Doch dort hatte ihn, wahrscheinlich angesichts seiner Freunde, die unten an der Theke mit anzüglichem Grinsen hockten und
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