Cherubim
übersät, und Richard musste nicht lange überlegen, um zu wissen, dass es sich auch hierbei um Blut handelte.
Langsam richtete er sich auf. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. »Da habt Ihr die Leiche gestern gefunden«, murmelte er. Obwohl er zu sich selbst sprach, nickte Silberschläger. Er war grün im Gesicht, und sein Kehlkopf ruckte auf und ab, wieder und wieder. Seinem eigenen Befehl zuwiderhandelnd, griff er nach einem der Fensterrahmen und löste ihn aus der Laibung. Wohltuend frische, eisigkalte Luft strömte in das Innere der Türmerswohnung.
Tief sog Richard sie in seine Lungen.
Dann sah er sich zum zweiten Mal um. Ein Viereck auf dem Boden fiel ihm auf. Dort waren die hölzernen Dielen ein wenig heller als ringsherum. Richard deutete auf das Viereck und sah Silberschläger fragend an.
»Oh das!« Der Bürgermeister unterdrückte ein neuerliches Husten. »Dort stand die mechanische Uhr. Wir haben sie in den Weißen Turm schaffen lassen. Irgendwer muss ja in Zukunft die Stunden schlagen, wenn der Türmer von St. Sebald tot ist.«
Der Türmer von St. Sebald.
Die Worte hallten in Richard nach. Wieder ließen sie etwas ganz hinten in seinem Kopf klingeln, aber erneut bekam er es nicht zu fassen.
Der Türmer von St. Sebald.
Tot.
Er zog die Unterlippe zwischen die Zähne und nagte darauf herum, während er nachdachte. Stück für Stück versuchte er zu rekapitulieren, was geschehen sein mochte. »Als der Türmer nicht mehr läutete, habt Ihr einen Büttel hergeschickt, um nachzusehen, was los ist.«
Silberschläger nickte.
»Und er fand eine menschliche Leiche. In dieser Truhe hier.« Richard wies auf die leere Truhe.
»Ja, aber ...«
Richard brachte den Bürgermeister zum Schweigen, indem er eine Hand hob. »Wartet! Eine Leiche, die, wie wir jetzt noch deutlich wahrnehmen können, zum Gotterbarmen gestunken hat und die, Euren Erzählungen nach zu urteilen, bereits halb verwest war.« Er rieb sich das Kinn. »Unabhängig davon, wo sich Eure Leiche jetzt befindet: Sie kann unmöglich die des Türmers sein! Wenn er vorgestern noch gelebt hat, würde seine Leiche heute noch nicht in dieser Weise stinken. Dazu ist es viel zu kalt draußen.«
Silberschläger sah aus, als habe Richard ihm einen Hieb versetzt. »Aber ...« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Ihr glaubt also, dass diese Leiche nicht der Türmer ist?«
Richard nickte. »Ich glaube es nicht nur, ich weiß es.«
Doch da schüttelte Silberschläger energisch den Kopf. »Das ist völlig ausgeschlossen!« Seine nasale Stimme klang ein paar Töne höher als sonst.
Richard runzelte die Stirn. »Wieso?«
»Weil der Türmer bis gestern noch geläutet hat! Und es ist schwierig, die Glocken richtig zu läuten, wenn man sich nicht mit Meister Müllers Tabellen auskennt! Der Meister selbst hat dem Türmer vor vielen Jahren das Ganze erklärt, und in Nürnberg gab es niemanden, der das außer dem Türmer noch vermochte. Egal, was hier gestern passiert ist: Der Türmer muss bis gestern noch gelebt haben!«
»Was wäre, wenn das tatsächlich der Fall ist?«, gab Richard zurück.
»Nun, dafür gäbe es nur eine einzige Erklärung!«
»Und die wäre?«
Silberschläger schauderte. »Der Mörder hat die Leiche verhext, so dass sie viel schneller verwest als gewöhnlich.«
Dieser Gedanke war Richard bisher noch nicht in den Sinn gekommen, und er war so unglaubwürdig, dass er beinahe aufgelacht hätte. Silberschlägers ernste Miene hielt ihn jedoch von einem spöttischen Spruch ab. »Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, deutete er an, und als Silberschläger nicht von selbst darauf kam, fuhr er fort: »Die Leiche ist nicht der Türmer.«
Silberschläger blinzelte. »Dann wäre der Türmer ...«
»... der Mörder. Habt Ihr das schon einmal überlegt?«
Silberschläger schüttelte den Kopf. »Ihr meint also, der Türmer hat diesen armen Tropf hier ermordet, ihn verhext und ist dann verschwunden?«
Beinahe hätte Richard die Hände über den Kopf geworfen angesichts so viel Borniertheit. »Nein!«, rief er aus. »Ich meine ...«
Silberschläger fiel ihm ins Wort. »Dass der Mann monatelang mit der stinkenden Leiche hier oben gelebt hat?« Er sah Richard an, als halte er ihn für völlig dämlich, und Richard musste zugeben, dass seine Theorie nicht sehr viel plausibler war als die des Bürgermeisters.
»Selbst wenn es so wäre«, triumphierte Silberschläger plötzlich, »dann wäre der Grund für den Mord derselbe, egal, ob meine Theorie
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