Cherubim
in das Kirchengewölbe.
Richard schluckte. Und nickte triumphierend, als er die winzigeSchnauze sah, die sich dicht über dem Steinfußboden der Kirche aus einem Loch in dem hölzernen Schreingehäuse schob.
Er deutete auf das Loch. »Da!«
Silberschläger schaute hin, aber er sah nur die scharfkantigen Spuren der winzigen Zähne auf dem Holz. Die Ratte hatte sich ängstlich ins Innere des Schreingehäuses zurückgezogen. Richard wagte nicht, sich vorzustellen, was sie darinnen tat. Vor seinem inneren Auge erschienen Bilder von Leichen, in die das Ungeziefer tiefe Löcher genagt hatte. Wieder musste er schlucken.
Dann kletterte er kurzerhand über die niedrige Chorschranke.
Jakob Flechner schnaufte empört.
Richard wandte sich zu ihm um. Dann deutete er auf das Grab. »Öffnet das Schreingehäuse!«, forderte er.
Nachdem der Befehl in der weihrauchgeschwängerten Stille verklungen war, dauerte es eine geraume Weile, bis jemand reagierte. Die Priester begannen eine hitzige Diskussion darüber, ob es rechtens sei, den Schrein außerhalb der üblichen Heiligentage zu öffnen. Richard hörte sich die spitzfindigen theologischen Erörterungen eine Weile lang an, doch dann verlor er die Geduld.
»Kommt her!«, bat er Flechner und winkte ihn zu sich heran.
Mit gerunzelter Stirn und zögernden Schritten kam der Priester seiner Aufforderung nach und stellte sich neben Richard.
»Beugt Euch ein wenig vor!«, bat der.
Auch das tat Flechner. Und verzog angewidert das Gesicht.
»Ihr riecht es«, sagte Richard ruhig. Der Leichengestank war so dicht beim Schrein deutlich wahrnehmbar. Wie ein Schatten in der Dunkelheit lauerte er unter dem Weihrauchduft, drängte sich dahinter hervor und machte den Priester schaudern.
Mit blasser Miene nickte der Mann.
»Genauso hat es oben in der Türmerstube gerochen«, erklärte Richard.
Wie ein kleines Kind, das unfähig war, eine schlechte Nachricht hinzunehmen, legte Flechner die Hände über beide Ohren und schüttelte den Kopf. »Heiligenreliquien stinken nicht«, murmelte er. »Sie riechen nach Rosen!«
Richard konnte kaum glauben, dass der studierte Mann vor ihmdiesem kindischen Volksglauben anhing. »Diese hier offenbar nicht«, sagte er trocken. Dann besann er sich eines Besseren. »Versteht doch! Wenn ich recht habe, dann befindet sich hinter diesen beiden Schlössern die Leiche, die dem Bürgermeister abhandengekommen ist!« Wieder streckte die Ratte ihre Schnauze aus dem Loch. Wieder zog sie sich rasch zurück. »Solange der Tote dort liegt, kann kein Besucher der heiligen Grabstätte den wahren Rosenduft von St. Sebalds Reliquien wahrnehmen. Das begreift Ihr doch, oder?«
Flechner überlegte. Dann sah er seine Begleiter an. Einer von ihnen nickte, und schließlich tat es auch Flechner. »Also gut!«, lenkte er ein. »Öffnen wir das Schreingehäuse. Aber der Reliquienschrein bleibt unangetastet!«
»Wenn ich mit meiner Vermutung recht habe«, nickte Richard, »dann kann er das getrost.«
»Bruder Friedrich!« Flechner gab einem seiner Begleiter einen Wink. Der Mann, ein schmaler Kerl mit hohlen Wangen und dicken Ringen unter den Augen, trat vor und hakte einen Schlüssel von seinem Gürtel ab, der nicht mehr war als ein L-förmiges Häkchen. Offenbar handelte es sich bei den Schlössern um recht einfach konstruierte Mechanismen. Wahrscheinlich war es sogar möglich, sie mittels eines simplen gebogenen Drahtes zu öffnen. Bruder Friedrich beugte sich über das Eisengitter. Dabei stieß er gegen eine der vier Kerzen an den Gitterecken. Sie wackelte, und etwas von dem flüssigen Wachs, das sich in ihrer Mitte gesammelt hatte, spritzte in die Höhe. Es landete auf dem Ärmel des Priesters, aber der achtete nicht darauf, sondern schob den Schlüssel in das erste der beiden Schlösser. Er musste mit beiden Händen zufassen, um ihn zu drehen, und als sich der Schlüssel bewegte, gab es ein scharfes, klickendes Geräusch, das von dem Deckengewölbe des Hallenchors unangenehm laut widerhallte.
Die Frau, die noch immer vor dem Bartholomäus-Altar kniete, blickte aus ihrer Versenkung auf, und auch zwei oder drei andere Beter wurden auf das Geschehen hinter der Chorschranke aufmerksam.
»Sorgt dafür, dass sie verschwinden, um Himmels willen!«, befahl Flechner seinen Priestern. Drei von ihnen lösten sich aus der Schar,zu der die Männer sich bei Richards unziemlicher Bitte zusammengedrängt hatten, und gingen zu den Betenden, um sie mit freundlichen Worten aus der Kirche
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