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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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richtig ist oder die Eure!«
    »Wie meint Ihr das?«
    »Nun, es gibt doch wohl nur eine Erklärung für ein derart seltsames, ekelhaftes Verhalten.« Silberschläger machte eine Pause, dann stieß er hervor: »Leichenzauberei! Entweder, der Tote hat gestern noch gelebt, dann wurde er verhext. Oder aber er liegt schon seit Monaten hier, und das, weil jemand mit der Leiche unheilige Riten vollzogen hat.«
    Richard war versucht, ihm erneut zu widersprechen, doch dann begriff er, dass der Bürgermeister recht hatte. Wenn diese Leiche tatsächlich der Türmer war, dann war ihr Verwesungszustand nicht auf irdischem Wege zustande gekommen. Eine Überlegung, bei der sich ihm unwillkürlich die Nackenhaare sträubten. Seiner Erfahrungnach war so gut wie nie Zauberei im Spiel, wenn Menschen sich gegenseitig die Schädel einschlugen, im Gegenteil: Es ging immer um überaus menschliche Verhaltensweisen wie Eifersucht oder Rachegefühle.
    Wenn er die Sache jedoch drehte und seine eigene Theorie annahm, musste er einen Grund dafür finden, dass jemand monatelang mit einer langsam verwesenden Leiche hier oben lebte. Und sosehr sich in ihm auch alles dagegen sträubte: Leichenzauberei war eine gute Erklärung dafür.
    Hatte der Türmer die Leiche aufbewahrt, um mit ihr unheilige Rituale durchzuführen?
    Leichenzauberei ...
    Richards Magenschmerzen verstärkten sich.
    »Wenn wir nur wüssten, wo die Leiche hin ist«, murmelte Silberschläger vor sich hin. »Ob der Zauber dafür gesorgt hat, dass sie sich in der vergangenen Nacht in Luft aufgelöst hat? Dann werden wir den Mörder niemals finden.« Er sah aus, als halte er das für eine plausible Erklärung.
    Die Ratte kam Richard in den Sinn und mit ihr ihre ekelerregende Beute. Er wollte Silberschläger schon davon erzählen, als sein Blick auf etwas am Boden fiel. Das Licht, das durch das geöffnete Fenster hereindrang, beleuchtete eine Stelle vor der Turmluke, und es enthüllte Linien, die jemand offenbar erst kürzlich in die rauen Bodendielen geritzt hatte. In der zuvor herrschenden Halbdämmerung war das Zeichen unsichtbar geblieben, aber das Sonnenlicht enthüllte es jetzt mit großer Deutlichkeit. Richard schaute genauer hin. Im ersten Moment hatte er das Zeichen für einen Drudenfuß gehalten, einen fünfzackigen Stern, den die Hexen und Zauberer für ihre Beschwörungen benutzten.
    Doch dann fiel ihm auf, dass er sich getäuscht hatte. Dieser Stern hier hatte nicht fünf Zacken, sondern sechs.
    Es war ein Davidstern.
    Das Zeichen der Juden.
    »So hatten Mullner und Kirchner doch recht!« Silberschläger kniete neben Richard am Boden und betrachtete den Davidstern mit einerMischung aus Zorn und Angst. »Die Juden versuchen, Nürnberg zu verderben.«
    Richard wollte erwidern, dass der Räuber der Leiche, sollte er wirklich ein Jude sein und Böses im Schilde führen, schon ziemlich dumm sein musste, um mit einem solchen Zeichen auch noch auf sich aufmerksam zu machen. Doch er verbiss sich einen entsprechenden Kommentar. Zu leicht geriet man in der aufgeheizten Stimmung, die in der Stadt herrschte, in einen Verdacht, den man so schnell nicht wieder loswurde.
    Leichenzauberei!
    Ihm war immer noch kalt.
    Vorsichtig meinte er: »Vielleicht wurde die Leiche aber auch nicht fortgezaubert, sondern auf ganz herkömmliche Weise einfach fortgeschafft.«
    Der Bürgermeister blickte auf und bleckte kurz seine seltsam grau aussehenden Zähne. Er hatte sich nur auf ein Knie herabgelassen, und die Spitze seines anderen Schuhs berührte einen der sechs Zacken des Sterns. »Wie das?«
    »Es ist nur eine vage Möglichkeit, aber ich habe unten im Kirchenschiff eine Ratte gesehen, die einen Finger mit sich trug ... oder sagen wir, ich glaube, dass es ein Finger war.«
    »Ein Finger!« Silberschläger stand mit einer behänden Bewegung auf, die nicht so recht zu seiner massigen Gestalt passen wollte.
    »Ein halb skelettierter Finger«, präzisierte Richard.
    Silberschläger schüttelte sich. Auf einmal wirkte er angespannt.
    Gemeinsam verließen sie die Türmerstube wieder und kletterten die steile Stiege hinab auf den Zwischenboden. Jakob Flechner hatte sich offenbar entschieden, unten in der Kirche auf sie zu warten, denn er war nirgends zu entdecken. Als Richard und Silberschläger im Mittelschiff ankamen, kniete er auf einer Bank vor dem Katharinenaltar und betete.
    Silberschläger räusperte sich leise und schreckte ihn damit aus seiner Versenkung auf. »Die Leiche«, sagte der

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