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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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Müde und erschöpft. Vielleicht hatte sie sich diese Stimme ja nur eingebildet?
    Sie rutschte an die Kante des Bettes, ohne jedoch die Füße auf den Boden zu stellen. Draußen auf der Straße rumpelte ein Fuhrwerk vorbei. Das Poltern der hölzernen Räder fing sich in dem kalten Raum und ließ Marias Ohren dröhnen.
    Die Tauben scharrten unter ihrem Tuch ungeduldig mit den Füßchen. Sonst hatten sie um diese Zeit längst ihr Futter bekommen.
    In Marias Kopf kreisten die Gedanken. Sie hatte sich diese Stimme mit Sicherheit nur eingebildet.
    Oder?
    Diese letzten Worte, die sie vernommen hatte, das göttliche Gebot – es war Maria vertraut vorgekommen, vertraut wie etwas, das sie schon häufig gehört hatte und vor dem sie keine Angst haben musste. Und doch hatte ihr die Stimme einen höllischen Schrecken eingejagt. Maria fragte sich, woran das liegen mochte, und während sie darüber grübelte, nagte sie auf ihrer Unterlippe herum, bis sie Blut schmeckte.
    In diesem Moment blitzte vor ihrem inneren Auge wieder das rote Rinnsal auf dem Straßenpflaster auf. Sie hielt die Luft an, in der Hoffnung, dass das Bild deutlicher werden würde. Und tatsächlich tat es ihr den Gefallen.
    Das Rinnsal umfloss die Buckel des Pflasters und den einsamen Löwenzahn, dessen Blätter klein und mickerig aussahen. Hinter dem Rinnsal, in wenigen Schritten Entfernung, befand sich eine Bretterwand.
    Maria versuchte sie so genau wie nur möglich in ihr Gedächtnis zurückzurufen. Sie sah die Maserung der grob gehobelten Bohlen, die breiten Spalten zwischen den einzelnen Brettern. Dann erweiterte sich ihr Blickwinkel noch ein wenig, und sie erkannte, dass die Bretter zu einer Marktbude gehörten.
    Diese Bude war nicht die einzige. Ringsherum standen weitere,allesamt so riesig aufragend, wie sie nur einem Kind erscheinen konnten. Einem sehr kleinen Kind.
    Maria wurde schwindelig vom Luftanhalten, und vorsichtig atmete sie weiter, als könne jede Regung ihres Körpers die Erinnerungen zurück in den Nebel treiben. Doch sie blieben. Voller Anspannung überließ Maria sich ihnen.
    Ihre Hand lag in einer größeren, wurde gequetscht von Fingern, die kälter waren als die ihren und die sie umfangen hielten wie ein eiserner Schraubstock. Der harte Griff tat ihr weh, und dennoch wagte sie es nicht, dagegen zu protestieren, denn sie wusste, dass sie dann Gefahr lief, Schimpfe zu bekommen oder vielleicht sogar Schläge.
    Mit der Frau, der die harte Hand gehörte, war nicht zu scherzen.
    Niemals.
    Mit einem Seufzen kehrte Maria in die Gegenwart zurück und versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass es Bruchstücke aus ihrer vergessenen Vergangenheit waren, die sie gesehen hatte. Der Gedanke erregte und ängstigte sie gleichzeitig. Sie spürte, wie ein Lachen in ihr hochperlte.
    »Die Erinnerungen kehren zurück«, sagte sie zu Mimi.
    Die Puppe schwieg. Sie schwieg immer.
    Maria wartete ab, ob noch weitere Bilder aufflammen würden, aber das war nicht der Fall. Fürs Erste würde sie mit dem wenigen vorlieb nehmen müssen, das sie bekommen hatte.
    Mit einem Ruck stand sie auf. Dann setzte sie Mimi zurück auf das Kopfkissen und begann sich anzuziehen. Im Gasthaus warteten sie wahrscheinlich schon auf sie. Während Maria sich ihre dicken Wollstrümpfe überstreifte und sie mit dem Strumpfband befestigte, fiel ihr Blick auf Dagmars Bett.
    Es war noch immer unberührt.
    »Na«, murmelte sie und zwang ein Grinsen auf ihre noch starren Gesichtszüge. »Du wirst mir hoffentlich einiges zu erzählen haben, meine Liebe!«
    Dann griff sie nach dem Tuch, zog es vom Käfig und nahm die Dose zur Hand, in der sie das Taubenfutter aufbewahrte. Die vier weißen Vögel hüpften begierig auf die Stange, die dem Käfigtürchenam nächsten war, und als Maria ihnen Futter hinstreute, hackten sie mit ihren Schnäbeln aufeinander ein.
    »Lasst das!« Maria klopfte auf das Käfigdach, aber die Tiere kümmerte das nicht. Eifrig fraßen sie weiter, die kleinen weißen Körper vor Aufregung aufgeplustert.
    Maria beobachtete sie eine Weile lang, lauschte auf ihre zufriedenen Gurrgeräusche. Schließlich griff sie nach ihrem Schal und schlang ihn sich um die Schultern.
    Es war Zeit, in die Krumme Diele zu gehen.
    Mit angehaltenem Atem beugte Richard sich über die leere Truhe und inspizierte sie. Sie enthielt nichts außer ein paar Staubflusen und einem dünnen Tuch, das auf ihrem Boden zu einem unordentlichen Haufen zusammengeknüllt lag. Es war mit großen dunklen Flecken

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