Cherubim
nickte er. »Öffnet die Luke!«
Er hielt die Luft an, und dennoch verursachte der Geruch, der wie eine feste Substanz aus der Türmerswohnung auf sie herabfiel, einen Hustenreiz. Schlagartig tränten ihm die Augen. »Heilige Mutter Gottes!«, ächzte er.
Silberschläger unterdrückte ein Würgen. »Ich habe Anweisung gegeben, die Rahmen in den Fenstern zu lassen«, quetschte er hinter seinem Ärmel hervor. »Weil ich verhindern wollte, dass Viecher reinkommen und sich die Überreste schmecken lassen.«
Richard verspürte ebenfalls einen Würgereiz. Er schluckte dagegenan. Dann folgte er Silberschläger die steile Stiege hinauf und durch die Luke in die Türmerswohnung.
Er fand sich in einem kleinen achteckigen Raum wieder, von dem aus Fenster in jede Himmelsrichtung wiesen. Ein jedes war mit einem hölzernen Rahmen versehen, in das eine hell gegerbte Haut eingespannt war. Das Licht, das durch die Häute drang, hatte einen samtenen, weichen Schimmer, und es legte sich über die Gegenstände, die einst dem Türmer gehört hatten. Eine Truhe mit zwei schweren eisernen Bändern, aber ohne Schlösser. Ein einfaches Lager aus Holzlatten mit einer strohgefüllten Matratze und ein paar Decken in verblichenen, ehemals offenbar roten Farben. Ein Tisch, ein Stuhl. Ein kleines Nachtkästchen mit einem Talglicht darauf. In einer der Ecken ein paar Tonscherben, deren Oberfläche auf der einen Seite mit einer dunkelgrünen Glasur bedeckt war.
Über dem Ganzen hing die große Glocke, mit der der Türmer die Stunden zu läuten hatte. Das Seil daran fiel schnurgerade herab. Der leichte Luftzug, der durch die Ritzen zwischen Mauerwerk und Fensterrahmen wehte, vermochte es nicht zu bewegen.
Langsam drehte Richard sich einmal um seine eigene Achse und ließ all diese Gegenstände auf sich wirken. Dann sah er Silberschläger an. »Wo ist Eure Leiche?«, fragte er, doch er ahnte die Antwort bereits.
Mit zusammengekniffenen Augen sah er zu, wie der Bürgermeister zu der großen Truhe ging und nach dem Deckel griff. Der Mann holte einmal tief Luft und stieß dann den Deckel auf.
In Erwartung eines neuen Schwalls übler Luft bedeckte nun auch Richard Mund und Nase mit einem Ärmel. Er wurde nicht enttäuscht. Der Leichengestank brach mit solcher Wucht über ihn herein, dass er einen Schritt rückwärts taumelte.
Silberschlägers Augen weiteten sich. »Was zum ...«
Richard blickte auf den Boden der Truhe. »Wo sagtet Ihr, ist Eure Leiche?«
Die Truhe war leer.
6. Kapitel
Maria hatte keine Ahnung, wie lange sie auf ihrem Bett gehockt und die Augen fest zugekniffen hatte. Irgendwann wollte sie aufblicken, aber ihre Lider klebten zusammen von den ungeweinten Tränen, die sich hinter ihnen gestaut hatten. Sie rieb sich darüber. Die Wimpern lösten sich nur widerwillig voneinander, und Maria musste blinzeln, um wieder klar sehen zu können.
Das Fenster stand noch immer sperrangelweit offen, und inzwischen zitterte Maria am gesamten Körper. Sie vermochte nicht einmal mehr zu unterscheiden, ob es die Kälte war oder die Angst, die sie bis ins Mark getroffen hatte und so sehr schüttelte, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen.
Langsam ließ sie ihre Knie los und streckte die Beine. Ihre Gelenke knackten wie die einer alten Frau. Sie legte den Kopf in den Nacken, und die von dem langen starren Sitzen verkrampften Muskeln protestierten mit einem dumpfen Brennen.
Draußen war es seit langem hell, das erkannte sie daran, dass ein einzelner Sonnenstrahl, der sich durch ein Loch in der Wolkendecke gemogelt hatte, das Fußende ihres Bettes streifte. Es musste bereits auf Mittag zugehen.
Sie presste die Kiefer zusammen und bewegte den Kopf noch ein wenig länger hin und her. Dabei fiel ihr Blick auf die Puppe. Mimi lag noch immer in ihrer Faust, und sie hatte durch die unsanfte Behandlung stark gelitten. Ihr Körper war zusammengedrückt und zerknautscht wie ein Taschentuch, das man zu lange in den Fäusten geknetet hatte. Und ihr Kopf hatte eine hässliche Einbuchtung dort, wo bis eben Marias Zeigefinger ihn gequetscht hatte.
Sorgsam zupfte Maria die bemalte Stoffkugel wieder in Form. »Entschuldige!«, murmelte sie.
Die Puppe antwortete nicht, und auch die dröhnende Stimme, dieMaria vorhin überfallen hatte, schien fort zu sein. War sie überhaupt dagewesen? Alle Sinne bis zum Äußersten angespannt, lauschte Maria in sich hinein. Sie kniff die Augen zusammen, und erneut verfingen sich ihre Wimpern ineinander.
Sie war müde gewesen.
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