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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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Bürgermeister mit sanfter Stimme, als wolle er den Mann nicht ängstigen. »Sie ist fort.«
    Flechner kam mit einem Satz auf die Beine. Seine Augen traten hervor. »Fort?«, ächzte er. »Wie kann das sein?«
    »Wie es scheint, wurde sie gestohlen«, erklärte Richard rasch, bevor Silberschläger Gelegenheit bekam, dem Praepositus von Zauberei und fortgehexten Leichen vorzuschwafeln. Er war bereits damit beschäftigt, jene Stelle zwischen den Kirchenbänken zu suchen, an der die Ratte hervorgekrochen gekommen war. Auf Flechners fragenden Blick hin erzählte er ihm von dem Tier. »Ich glaube, dass sich die Leiche noch irgendwo hier in der Kirche befindet.«
    Flechners Augen traten noch ein wenig weiter hervor, und auch Silberschläger glotzte jetzt ungläubig.
    »Wie ... so?« Der Praepositus hauchte die Frage nur. Er sah aus, als wolle er sogleich in Ohnmacht fallen. Die anderen Priester, die sich vorhin in seiner Begleitung befunden hatten, bemerkten jetzt, dass ihre Gäste vom Turm herabgestiegen waren, und gesellten sich wieder zu ihnen. Besorgt sah einer von ihnen, ein jüngerer Kerl mit einem nervösen Zucken unter dem rechten Auge, Flechner an.
    Richard wies auf den Fußboden, über den die Ratte gehoppelt war, und erzählte nun auch den Priestern von dem Tier. »Ich glaube, dass sie einen Finger im Maul hatte.«
    Flechner stieß ein Würgen aus.
    Silberschläger fuhr sich mit zitternden Fingern durch die Haare.
    Richard wollte etwas hinzufügen, aber er kam nicht dazu. »Da!«, rief er aus. An den Kirchenbänken des südlichen Seitenschiffs entlang flitzte eine weitere Ratte. Ihr gekrümmter Rücken und der lange Schwanz ekelten Richard, aber er zwang sich, genauer hinzusehen. Auch dieses Tier trug etwas im Maul, aber es war nicht so eindeutig zu identifizieren wie zuvor der Finger. Diesmal schien es nur ein längliches, ledriges Stück Fleisch zu sein.
    Richards Blick wanderte in die Richtung, aus der die Ratte hervorgestoben war. »Sie kommt aus dem Chor!«, murmelte er, und bevor Silberschläger oder einer der anderen Männer etwas dagegen tun konnte, marschierte er die Reihen der Kirchenbänke entlang und auf den weiträumigen Hallenchor zu.
    Vor der niedrigen Chorschranke, die mehr der optischen denn der tatsächlichen Abtrennung des Allerheiligsten der Kirche diente, blieb er stehen. Seine Nasenflügel weiteten sich ein wenig, als er Lufteinsog. Hier vorn roch es wesentlich stärker nach Weihrauch als im Rest der Kirche.
    Er ließ seine Blicke durch den Chorraum schweifen. Direkt vor ihm befand sich das Grab des heiligen Sebald. Dessen Schrein war von einem hölzernen Überbau umgeben, der ihn vor den neugierigen Blicken der Menschen – und auch vor ihren diebischen Fingern – schützen sollte. Dieser Überbau war bemalt mit Heiligenlegenden und behängt mit Dutzenden von kleinen Votivbildchen, die meisten aus Wachs. Aber ab und an funkelte auch ein Messing- oder Silber- oder sogar das eine oder andere Goldplättchen zwischen ihnen.
    Rings um den Überbau befand sich ein zaunähnliches Gitter, auf dessen vier Ecken Kerzenständer festgeschmiedet waren. Von früheren Besuchen bei einem der Heiligenfeste wusste Richard, dass sich unter dem Holzkasten eine lederne Hülle befand, die den eigentlichen Schrein schützte. Dieser wurde nur an hohen Feiertagen aus seinem Holzkasten entnommen, von der Lederhülle befreit und den Menschen gezeigt. Er war wiederum aus Holz, besaß die Form eines Hauses und war beschlagen mit einem dichten Netz aus silbernen Reliefplatten, das ihn überaus wertvoll aussehen ließ.
    Silberschläger baute sich neben Richard auf. Richard warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Der Bürgermeister sah aus, als wäre er am liebsten auf der Stelle davongerannt. Sein Kehlkopf zuckte, und seine Hände schlossen und öffneten sich unruhig.
    Richard konzentrierte sich wieder auf die Grabstätte. Er versuchte, irgendeine religiöse Empfindung hervorzurufen angesichts der heiligen Gebeine, doch es gelang ihm nicht. Vor dem Schrein stand ein altarartiger Stein, der mit einem dicken Brett aus massivem, schwarzem Holz bedeckt war. Hierauf hatten Gläubige ebenfalls Votivgaben für den Heiligen abgelegt. Richard sah größere und kleinere Münzen, kostbare Bienenwachskerzen, aber auch sehr weltliche Dinge wie einen Korb mit Äpfeln, einen Laib Käse und sogar ein ausgenommenes, aber noch nicht gerupftes Huhn. Dessen Kopf hing schlaff über die Kante des Brettes, und seine Augen starrten blind hinauf

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