Cherubim
auf das Bett. Behutsam nahm sie die Spinne zwischen die Falten des weißen Stoffes, hüpfte zu Boden und öffnete das Fenster. Sie schüttelte die Spinne aus dem Tuch und sah zu, wie sie durch die eisige Luft in die Tiefe segelte. Das Tier war zu klein, um es noch zu sehen, als es landete, aber dennoch blickte Katharina eine Weile auf die kalte Erde der Flussinsel, auf deren Ufer sich das Henkershaus stützte.
Erst als sie zu frösteln begann, schloss sie das Fenster wieder und wandte sich um.
Über ihrem Bett war ein einfaches Brett angebracht, auf dem sie ein paar persönliche Dinge und auch die restlichen Fläschchen mit Medizin aufbewahrte, die von ihrem selbstgemachten Vorrat noch übrig waren. Es waren kaum ein Dutzend. Eine in helles braunes Leder eingeschlagene Mappe lehnte an der Wand, aus der mehrere Seiten Papier herausragten.
Diese Mappe nahm sie nun zur Hand, legte sie auf ihren Schoß und strich mit den Fingerspitzen über die glatte, seidige Oberfläche des alten Leders.
Der Geruch der Papiere stieg ihr in die Nase, und auf einmal liefen ihre Augen über. Sie wischte sich über die Wangen.
Nach einer Weile schlug sie die Mappe auf. Das oberste Blatt darin zeigte die mit Kohlestift hingeworfene Skizze einer menschlichen Hand. Einer Hand, die von Haut und Muskeln befreit worden war und deren Blutgefäße sich wie ein feines Netz über den Handrücken und die Finger spannten. Lange Zeit betrachtete Katharina diese Hand.
Es war ein Wunder, dachte sie. All diese feinen Adern, manche so dünn wie Haare, und doch waren sie dick genug, um Blut, diese zähflüssige Substanz, bis in den letzten Winkel eines Körpers zu transportieren.
Katharina blätterte um. Die nächste Skizze zeigte ein ähnliches Bild, nur diesmal nicht von einer Hand, sondern von einem Fuß. Über dieses blätterte Katharina hinweg, und auch über die folgenden, über die Ansichten von Lungenflügeln und die verblüffend echt aussehende Abbildung eines Fingerknochens.
Beim fünften Bild schließlich hielt sie inne. Und schluckte schwer. Es war eines der wenigen, die nicht mit Kohlestift gezeichnet waren, sondern mit kräftiger Farbe. Es zeigte eine nicht ganz runde Kugel, aus der ein rotes, fadenähnliches Gebilde hervortrat. Ein menschliches Auge. Und Katharina hatte das furchtbare Gefühl, dass es sie direkt anblickte.
Sie hob eine Hand vor den Mund, ballte sie zur Faust und biss sich auf den Knöchel des Zeigefingers, bis sie einen metallischen Geschmack im Mund spürte.
Die Spinnweben in ihrem Kopf waren jetzt dicht und quälend,und sie entzogen der Umgebung all ihre Farben. Das Licht wurde grau und die Zeichnung vor ihr ebenso.
Das Geräusch von Möbelbeinen, die über den Holzfußboden schrammten, ließ sie aufschrecken.
»Katharina?«
Es war nicht Mechthilds Stimme, die sie hörte, sondern die von Ludmilla.
Im nächsten Moment wurde die Tür zu Mechthilds Kammer geöffnet, und die Freundin ihrer Mutter stand vor ihr. Rasch klappte Katharina die Mappe zu.
Ludmilla war eine große, grobknochige Frau, deren Gesicht jedoch etwas Zartes an sich hatte. Katharina hatte lange gebraucht, um herauszufinden, woher dieser Eindruck rühren mochte, und schließlich war sie zu der Erkenntnis gekommen, dass es allein die warmen, freundlich blickenden Augen waren, die Ludmillas Zügen alles Strenge und Kantige nahmen. Mit ihrem Glanz überstrahlten sie jede Härte völlig mühelos.
»Ich habe dich gar nicht nach Hause kommen hören!«, sagte Ludmilla mit einem Anflug von Erstaunen.
Katharina nickte ihr zu. »Ich war leise, weil ich Mutter habe schnarchen hören. Ich wusste nicht, dass du da bist, sonst hätte ich dich begrüßt, entschuldige!«
Ludmilla trat aus Mechthilds Kammer, weil hinter ihr das Schnarchen zwei Takte ausließ. Dann jedoch dauerte es an, und Ludmilla lächelte schwach. »Sie ist heute sehr müde. Scheint an dem Wetter zu liegen.«
Katharina warf einen Blick nach draußen. Die Sonne schien mit aller Kraft, die sie im Winter aufzubringen vermochte, und trotzdem kam sie ihr farblos und blass vor.
Katharina presste die Lippen zusammen.
»Dir scheint es auch nicht besonders gut zu gehen«, vermutete Ludmilla und kam ein wenig näher.
Rasch schwang Katharina die Füße auf den Boden. »Doch, doch! Es ist nichts. Ich habe nur ein bisschen nachdenken wollen.«
Ludmilla wies auf die Mappe, die sie sich wie einen Schutzschild vor die Brust hielt. »Was ist das?«
Katharina blickte darauf nieder. »Oh! Nur ein paar
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