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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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Lippe und nicht auch noch den Gaumen, wie das bei manchen Kindern, die mit dieser Missbildung zur Welt kamen, der Fall war. Auf diese Weise konnte Lukas weitgehend verständlich sprechen. Nur die B- und P-Laute hörten sich etwas undeutlich an, wenn er sie formte.
    Weil Martin noch immer neugierig schaute, fügte Lukas hinzu: »Ich soll mich mit einem Kollegen treffen.«
    »Ein Kollege?« Martin ließ die Peitsche knallen, weil seine Ochsen zu trödeln begannen.
    »Ich bin ein Medicus.«
    Jetzt wirkte der Bauer erstaunt. »Ihr wirkt nicht wie ein Studierter!«, behauptete er.
    Lukas musste lachen. »Ihr haltet mich für zu jung, oder?«
    Martin nickte. »Ihr seid doch höchstens zwanzig Jahre!«
    »Nun. Wenn Ihr es genau wissen wollt: Ich bin achtundzwanzig. Genug Zeit also, um ein Studium der Medizin an einer der großen Hochschulen zu beenden. Doch Ihr habt ins Schwarze getroffen: Ich habe niemals studiert.«
    Martin schnalzte mit der Zunge. »Dann seid Ihr ein Scharlatan?« Er fragte das geradeheraus und mit einem entschuldigenden Grinsen in den Mundwinkeln.
    Wieder musste Lukas lachen. So langsam hellte sich seine Stimmung auf, und er ertappte sich dabei, dass seine Hand in die Tasche fuhr, um nach dem Brief zu tasten.
    Dem Brief, der ihn hierherführte.
    »Kein Scharlatan. Ich habe bei zwei richtigen Medici gelernt, bei meinem Vater in Köln und bei einem Freund von ihm, einem echten Studierten hier aus Nürnberg. Und Ihr dürft mir glauben, dass ich weitaus weniger Patienten verloren habe als so mancher studierte Mann!«
    Eine Weile schwieg Martin, als müsse er sich den nächsten Satz gut überlegen. »Ihr müsst Euch nicht verteidigen«, meinte er schließlich. »Mir ist es völlig gleichgültig, was Ihr treibt. Dieser Studierte hier aus Nürnberg: Mit ihm trefft Ihr Euch, oder?«
    Lukas schwieg. In seinem Innersten tobten die Gefühle, und wieder tastete er nach dem Brief in seiner Tasche.
    Martin machte ein aufmunterndes Geräusch, das dem Schnalzen, mit dem er seine Ochsen antrieb, sehr ähnelte.
    »Ich habe ihn lange nicht gesehen«, murmelte Lukas. Er blickte auf seine Arme, auf denen sich die feinen Härchen aufgestellt hatten. Mit einer energischen Bewegung setzte er sich die Mütze wieder auf und zog sie tief über beide Ohren.
    »Nun.« Martin zerrte an den Zügeln, und seine Ochsen blieben mit einem empörten Grunzen stehen. »Ich wünsche Euch alles Gute.« Er hob den Arm und wies nach vorn.
    Lukas blickte hoch.
    Vor ihnen ragte die Stadtmauer von Nürnberg auf und warf ihren Schatten auf sie.
    Maria mochte das Gasthaus Zur krummen Diele, denn in ihren Augen hatte es etwas, das man als Persönlichkeit bezeichnen konnte. Es war um ein Vielfaches kleiner als das protzige sechsstöckige Gebäude am Weißen Turm, dem sein Wirt den Namen Zum roten Ochsen gegeben hatte. Während der Ochse mit seinen verzierten Balken und den neuen Dachreitern förmlich schrie »Seht her!«, duckte sich die Diele in eine Sackgasse im Schatten der Stadtmauer. Ihre Balken waren krumm und schief, und dadurch wirkte das gesamte Gebäude wie ein alterndes Weib, das sich an den Mauern auf seiner linken Seite Halt verschaffen musste.
    Wie immer schlug Marias Herz ein wenig ruhiger, sobald sie dieGasse betrat und vor der Fassade des Gasthauses stehenblieb. Sie hatte schon in vielen solcher Häuser gearbeitet, aber die Diele war wie eine Art zweites Zuhause für sie. Was nicht zuletzt an dem Mann lag, den sie hier ab und an treffen konnte und bei dem ihr Herz anfing zu galoppieren, wenn sie nur an ihn dachte.
    Ob er heute da war?
    Mit einem Anflug von Hoffnung zog sie an der Tür zur Schankstube, die wie immer klemmte. Sie musste mit beiden Händen zugreifen, um sie aufzubekommen, und als sie es geschafft hatte, hätte der eigene Schwung sie beinahe rücklings zu Boden geworfen.
    Rasch, um nicht zu viel der angenehm warmen Luft nach draußen zu lassen, betrat sie den schmalen Korridor, zerrte die Tür hinter sich wieder ins Schloss und huschte dann in die Gaststube. Niklas, der Wirt, stand bereits hinter seiner Theke, aber während er sonst emsig damit beschäftigt war, irgendwelche Arbeiten auszuführen, schien er heute völlig in Gedanken versunken und regungslos. Er hatte Marias Eintreten nicht einmal bemerkt und zuckte heftig zusammen, als sie ihm ein »Guten Morgen!« zurief.
    »Du solltest die Tür mal wieder richten!«, riet sie ihm. Er glotzte sie so überrascht an, als sei sie endlich auf eines der unsittlichen Angebote

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