Cherubim
eine dumpfe Stimme.
Richard drehte sich um. Es war inzwischen vollständig dunkel geworden, so dass die Schatten sich in die Ecken und Winkel zwischen den Häusern zurückgezogen hatten wie lebendige Wesen, die vor dem schwachen Lichtschein, der aus den Gasthausfenstern drang, flohen. In einem dieser Schatten, keine vier oder fünf Schritte von Richard entfernt, stand ein Mann. Richard konnte sein Gesicht nicht erkennen, denn ein großer federgeschmückter Hut beschattete es.
Unwillkürlich tastete Richards Rechte nach dem Schwert.
»Sag nicht, du hast vor, mich aufzuschlitzen?« Der Mann trat einen Schritt vor, und jetzt fiel das Licht aus den Gasthausfenstern unter die Krempe seines Hutes.
»Arnulf!«, rief Richard aus. »Liebe Zeit, musst du dich so anschleichen?«
Der Mann nahm den Hut ab und schüttelte seine langen schwarzen Haare, die er, anders als es früher seine Gewohnheit gewesen war, nicht zu einem Zopf gebunden hatte. »Bist ein wenig schreckhaft heute, oder wie?«
Sie umarmten sich, wie sie es manchmal taten, wenn sie sich länger nicht gesehen hatten. Sie waren Freunde seit Kindheitstagen, und selbst die Tatsache, dass sie völlig verschiedene Leben lebten, hatte daran nichts ändern können. Vor drei Monaten hatte Richard Arnulf kurze Zeit für tot gehalten. Der Nachtrabe war beim Kampf gegen den Engelmörder in einen Brunnen gefallen und daraus nicht wieder aufgetaucht. Die darauffolgenden Tage waren einige der schlimmsten in Richards gesamtem Leben gewesen, nicht nur, weil er sich von den Wunden erholen musste, die der Engelmörder ihm beigebracht hatte, sondern auch, weil die Trauer um den Freund ihn fast umgebracht hätte. Selbst jetzt, Wochen später, verspürte er noch die Erleichterung, die er empfunden hatte, als der Freund eines Tages, auferstanden wie Lazarus aus dem Grab, plötzlich wieder vor ihm erschienen war.
Arnulf musterte Richard. »Siehst irgendwie nicht gut aus, aber lass uns lieber erst mal reingehen. Bei dieser Kälte frieren ei’m ja sogar die Eier in der Hose!«
Es war dieser raue Gossenton, der Richard ein wenig aus seiner grauenerfüllten Erstarrung riss. »Bei allen Heiligen, du glaubst nicht, wie gerne!«, lächelte er.
Arnulf schob sich an Richard vorbei, langte nach dem Türknauf und zog die Tür vollständig auf. »Bitte! Nach dir!«
Kurze Zeit später saßen sie an einem der Wirtshaustische und warteten darauf, dass der Wirt ihnen zwei Becher mit Glühwein brachte, den sie bestellt hatten.
»Warum siehst du so beschissen aus?« Arnulf legte die Unterarmeauf der Tischplatte ab und verschränkte die Finger ineinander. Eine Hure mit einem dunkelgrünen Kleid saß an Niklas’ Theke und musterte Richard interessiert. Sie wandte sich jedoch anderen Dingen zu, als Arnulf ihr einen finsteren Blick zuwarf.
Richard zuckte die Achseln. Er war hier, weil er vergessen wollte, und er hatte keine Lust, über die ganze Sache zu reden. »Ein paar alte Befindlichkeiten«, meinte er nur und hoffte, er höre sich ausreichend beiläufig an.
Arnulf blickte ihn aufmerksam an. Dann nickte er. »Wenn du meinst!«
Niklas kam und brachte ihnen den bestellten Wein. Anders als der Wirt vom Roten Ochsen machte er sich nicht die Mühe, die Tischplatte sauberzuwischen, bevor er die beiden Becher abstellte. Dann ging er wieder.
Richard fegte ein paar Krümel zu Boden.
Die Hure im grünen Kleid hatte sich entschlossen, einen Vorstoß zu wagen, und war von ihrem Hocker aufgestanden. Arnulf schoss erneut einen grimmigen Blick auf sie ab, und sie setzte sich wieder hin.
Der Nachtrabe nahm seinen Becher, trank einen Schluck, ohne zu prüfen, ob der Wein vielleicht für seine Lippen zu heiß war. Als er schluckte, sah Richard seinen Kehlkopf hervortreten.
Er wollte etwas sagen, das war deutlich.
Richard griff ebenfalls nach seinem Becher, trank jedoch nicht. Er blickte auf die dunkelrote Flüssigkeit darin und den Dampf, der davon aufstieg. »Was ist los?«, fragte er.
Da seufzte Arnulf. »Ich fürchte, ich brauche deine Hilfe!« Er zögerte. »Komm mit!«, bat er dann, stemmte beide Fäuste auf der Tischplatte ab und erhob sich.
Richard stand gleichfalls auf.
Arnulf warf Niklas, dem Wirt, einen Blick zu, der wich ihm aus, und ohne das Wort an ihn zu richten, führte der Nachtrabe Richard zu Hintertür hinaus und zu einem Schuppen, der sich im Hof befand.
Er zögerte erneut, bevor er die Tür öffnete, doch dann tat er es mit einem entschlossenen Ruck und machte Richard den Weg ins
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